Kranke Geschwister: Kinder sehen keinen Schatten
Geschwister von schwerkranken Kindern müssen in der Familie oft zurückstecken. Experten fordern, die Perspektive der Kinder zu berücksichtigen und viel mehr Hilfsangebote.
Von Theresa Mair
Innsbruck – Wenn in den Medien über die Geschwister von chronisch kranken oder behinderten Kindern berichtet wird, dann fällt ab und zu der Begriff „Schattenkind“. Er impliziert, dass die gesunden Schwestern und Brüder im Schatten stehen, weil das kranke Geschwisterkind die volle Aufmerksamkeit der Eltern braucht. Sie müssen zurückstecken, manchmal auch bei der Pflege mithelfen, und häufig sind finanziell keine großen Sprünge geschweige denn Familienurlaube drin.
„Ich habe in meiner Arbeit die Kinder direkt interviewt und sie würden nie von sich behaupten, dass sie Schattenkinder sind“, sagt Christiane Knecht. Die Pflegewissenschafterin von der FH Münster in Deutschland befragte für ihre Studie 18 gesunde Kinder und Jugendliche sowie sieben Erwachsene, die mit einem chronisch kranken Geschwisterkind aufgewachsen sind. Ihr Fazit: „Kinder sind schon belastet von der Situation, aber nicht so stark, wie man meint.“
Gesunde Geschwister unterstützen und entlasten die Familie – auch in der Pflege – und das mache sie stolz. „Sie wollen keine Schattenkinder sein, sondern mit ihrer Kompetenz wahrgenommen werden. Kinder finden Wege, um sich die Zuwendung zu holen.“ Konflikte fänden überwiegend nicht innerhalb der Familie statt. Sondern dann, wenn die gesunden Geschwister in eine Situation kommen, in der sie sich zwischen der durch die Krankheit dominierten Lebenswelt in der Familie und dem Leben außerhalb entscheiden müssen. Ein Beispiel: „Eine 19-Jährige stand mitten im Abitur. Parallel lag ihre Schwester auf der Intensivstation. Deshalb wollte sie die Matura nicht machen und lieber bei der Schwester bleiben.“ In dieser Situation, die an der Schnittstelle der zwei Lebenswelten stattfand, war der Schulleiter eine wichtige Ressource für die Schülerin.
„Er hat sie ermutigt, das Abitur zu probieren, und signalisiert, dass er ihr den Rücken freihalten wird. Sie hat es dann geschafft und im Verlauf ging es der Schwester wieder besser.“ Die Pflegewissenschafterin rät den Eltern, Lehrern und Kinderbetreuern, mit den gesunden Kindern über ihre besondere Situation zu sprechen. Dadurch könnten Konflikte direkt angesprochen werden. Weitere Ressourcen, auf die die Kinder zurückgreifen, sind Omas, Freunde – aber auch Wissen über die Krankheit. Rückzugs- und Verarbeitungsmöglichkeiten finden sie z. B., indem sie Tagebuch schreiben oder Hobbys nachgehen.
Einseitig erlebnispädagogische Ansätze sieht Knecht aber kritisch. „Dabei geht es darum, den Kindern Aufmerksamkeit zu geben, z. B. mit Kanutouren. Das reicht aber nicht. Den Kindern muss beides angeboten werden – ein Schutzraum, aber auch die Krankheitssituation soll reflektiert werden.“
Hilfsangebote in Österreich sind bisher rar und ausschließlich von Privatinitiativen und Organisationen getragen. „Formalisierte Unterstützungsangebote gibt es leider nicht“, sagt Daniela Karall, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde. Diese würde es aber brauchen, knüpft die Expertin für angeborene Stoffwechselerkrankungen an der Uniklinik für Pädiatrie I in Innsbruck einen Appell an die öffentliche Hand daran.
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„Wir sind uns bewusst, dass chronische Erkrankung die ganze Familie mitbetrifft, und fragen nach, wie die Familienstruktur ist“, sagt Karall. „Wenn die Situation angesprochen wird, kann man sich auf die Suche nach Lösungen machen. Wir suchen die Ressourcen innerfamiliär, aber auch außerhalb, und versuchen, den Eltern Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Selbsthilfegruppen, die mobile Kinderkrankenpflege oder die Familienhilfe der Caritas. Es ist wichtig, dass Eltern Zeitslots für die gesunden Kinder finden können“, so Karall. Sie empfiehlt Eltern u. a. die Lektüre der Broschüre „Ich bin auch noch da!“ (siehe Infobox). Manchmal seien die Familien froh über die Hilfe, manchmal sei es aber auch zu wenig, was von Seiten des Krankenhauses geleistet werden könne. „Wir sehen bei den gesunden Geschwistern schon vermehrt Reaktionen auf die psychische Belastung.“
Manche Kinder werden aggressiv, andere ziehen sich zurück
Ängste, Eifersucht und vor allem Schuldgefühle spielen eine große Rolle. „Diesen Kindern muss man zeigen, dass man sie in ihrer Not erkannt hat, und ihnen sagen, dass sie nicht alleine und ihre Gefühle legitim sind.“ Manche Kinder werden aggressiv, andere ziehen sich zurück, aber nicht alle. Deswegen mag auch Karall den Begriff „Schattenkind“ nicht. „Unsere Erfahrung ist, dass es sehr, sehr wenig Angebote für Geschwister von chronisch kranken Kindern gibt“, bedauert auch Horst Szeli, Gründer der „Arche Herzensbrücken“. Aus diesem Grund müssten die Kinder oft allein mit einem ganzen Bündel an Emotionen zurechtkommen.
„Unser Ansatz ist, dass wir das ganze Familiensystem auffangen. Wir versuchen, das Geschwisterkind in den Fokus zu nehmen, das erkrankte Kind zu betreuen und eine Auszeit für die Eltern zu schaffen“, sagt er. Der Verein bietet Familien Urlaub in Seefeld mit Pflege und Therapie sowie psychosozialer Betreuung für alle Kinder an. „Wenn wir sehen, dass ein Kind gut auf eine Therapie anspricht, versuchen wir auch Kontakte zu solchen Angeboten in der Heimatregion herzustellen.“ Denn eine Auszeit ist toll – einmal im Jahr aber viel zu wenig.