Meer flutet voll, Opernhaus leer
Mit Hans Werner Henzes „Das verratene Meer“ setzt die Wiener Staatsoper eine weitere beeindruckende Marke in die Covid-Theater-Prohibition.
Von Stefan Musil
Wien – Wien spielt Oper! Allerdings derzeit nur für Kameras und Mikrofone und ein paar Mitarbeiter und Kritiker, die zugelassen sind. Zuletzt sogar, um eine Neuproduktion, die vierte Premiere der Direktion von Bogdan Rošcˇić, live zu erleben, während das restliche Publikum über Streaming und Radio dabei sein konnte: Henzes kaum gespielte Oper „Das verratene Meer“ erlebte so seine gelungene Wiener Erstaufführung.
Davor hatte man bereits einige Aufführungen für die TV-Kameras gerettet. Zunächst einen herrlichen „Werther“ von Massenet, bei dem ein tenoral auftrumpfender Piotr Beczala Goethes unglücklich Liebenden veredelte (nachzusehen am 10. Jänner, ORF III). Am Sonntag gab es als zeitversetztes TV-Live-Großereignis Anna Netrebko zum ersten Mal als Puccinis Primadonna Tosca in Wien. Sie nahm höchst beeindruckend dank ihrer Aura und ihrer Prachtstimme sogar das leere Haus mit links im Sturm.
Ende der Woche folgt noch die Aufzeichnung des „Rosenkavalier“ in Traumbesetzung (Krassimira Stoyanova als Marschallin, Günther Groissböck als Ochs, Beczala als Sänger) für die Ausstrahlung am 27. Dezember (ORF III). Auch das Theater an der Wien ist zum Glück nicht still, sondern konnte Jean-Philippe Rameaus „Platée“, in der grandiosen Inszenierung von Robert Carsen von 2014, unter dem wunderbaren Dirigat von William Christie für DVD und TV festhalten.
Doch obwohl die Staatsoper ein Konzept im Talon hätte, um vor 350 Zuschauern sicher spielen zu können, blieb am Montag bei „Das verratene Meer“ das Haus einmal mehr Besucher-befreit. In kühl-präzisem, auf das grausame Ende fein zugespitztem Suspense erzählt das Regieduo Jossie Wieler und Sergio Morabito souverän die auf einem Roman von Yukio Mishima basierende Geschichte. Die reiche Witwe Fusako verliebt sich in einen Seemann, was dem psychisch nicht ganz stabilen Sohn Noburo schlecht bekommt. Mit seiner brutalen Bande bringt er ihn am Ende um.
Die beeindruckende Betonarchitektur und die Kostüme von Anna Viehbrock lassen die grausige Erzählung in dezenter japanischer Anmutung stimmig oszillieren, so wie auch die Regie den Realismus gekonnt bricht. So könnten etwa die grausamen Freunde auch Kopfgeburten des verstörten Noburo sein.
Musikalisch gelingt der Abend grandios. Vera-Lotte Boecker ist eine leuchtend intensive Fusako, Bo Skovhus gibt dem Ryuji mit prägnanter Diktion Plastizität, und Josh Lovell ist ein glaubwürdiger Noburo. Das ganz große Ereignis findet vor allem im Orchestergraben statt. Dort bringt das Staatsopernorchester, wie bei den vorangegangenen Vorstellungen in Hochform, unter der großartigen Simone Young die farbenreiche, raffinierte Partitur Henzes zum Leuchten, Blühen, Glühen und Dampfen.
Eine faszinierende Entdeckung, der man bald viel lebendiges Publikum wünscht.