Der Winter nach dem Arabischen Frühling
Im Dezember 2010 sprang in Tunesien der Funke der Revolution über. Die Menschen in Nordafrika und im Nahen Osten verlangten Mitbestimmung. Zehn Jahre später herrscht Ernüchterung.
Tunis, Kairo, Sanaa, Damaskus, Tripolis –Vor zehn Jahren begann der Arabische Frühling und löste eine Welle der Hoffnung aus. Mit einem Mal schien es möglich, dass sich seit Jahrzehnten autoritär regierte Staaten im Nahen Osten und Nordafrika zu Demokratien mit einer starken Zivilgesellschaft wandeln könnten. Zehn Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus. Allein Tunesien erlebte einen Übergang in Richtung Demokratie; andere Staaten wie Libyen, Syrien oder der Jemen versanken in Krieg und Chaos. Die Hoffnung ist mittlerweile gestorben, der Nahe Osten wurde wieder einmal zum Schlachtfeld der Regional- und Weltmächte.
Tunesien als Lichtblick
Aus Protest gegen Armut und Chancenlosigkeit zündete sich der junge Straßenverkäufer Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 selbst an. Seine Verzweiflungstat löste landesweite Kundgebungen aus und wurde zum Funken für Proteste in der gesamten Region, es war die Geburtsstunde des Arabischen Frühlings. Weniger als einen Monat später floh der tunesische Machthaber Zine el-Abidine Ben Ali nach Saudi-Arabien. Noch im gleichen Jahr wurden in dem kleinen nordafrikanischen Land die ersten freien Wahlen abgehalten. 2014 verabschiedete Tunesien eine neue Verfassung. Bis heute leidet Tunesiens junge Demokratie unter politischer Instabilität und einer düsteren wirtschaftlichen Lage.
Ägypten – Brutale Unterdrückung nach dem Aufbruch
Die ersten Demonstrationen gegen Langzeitherrscher Hosni Mubarak begannen am 25. Jänner 2011. Hunderttausende Menschen versammelten sich Tag für Tag auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die Staatsführung reagierte mit Gewalt, fast 850 Menschen wurden getötet. Aber die Massenproteste rissen nicht ab und zwangen Staatschef Mubarak am 11. Februar zum Rücktritt. Im Juni 2012 wurde Mohammed Mursi von der Partei der Muslimbrüder der erste frei gewählte, zivile Präsident des neuen Ägyptens. Doch nach nur einem Jahr stürzte ihn das Militär, angeführt vom ehemaligen Armeechef Abdel Fattah al-Sisi. In den folgenden Monaten ging die neue Führung mit aller Härte gegen Mursis Anhänger vor, etwa 1400 Menschen wurden getötet. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International baut al-Sisi Ägypten zu einem „Gefängnis unter offenem Himmel“ um, Zehntausende sind aus politischen Gründen in Haft.
Jemen – Bürgerkrieg und Hungersnot
Zehntausende Demonstranten forderten am 27. Jänner 2011 den Rücktritt von Präsident Ali Abdullah Saleh. Nach drei Jahrzehnten an der Spitze des Staates trat er im Februar 2012 zurück. Sein ehemaliger Stellvertreter Abd Rabbo Mansour Hadi wurde in einer Wahl ohne Gegenkandidaten zum Übergangspräsidenten. 2014 verbündete sich Saleh mit seinen früheren Feinden, den vom Iran unterstützten schiitischen Houthi-Rebellen, um seinen Amtsnachfolger Hadi zu entmachten. Sie nahmen große Teile des Landes ein, darunter auch die Hauptstadt Sanaa. Im Folgejahr griff der mächtige Nachbar Saudi-Arabien ein, um die Houthi zu stoppen. In dem seither andauernden Krieg starben Zehntausende Menschen. Mitte November 2020 warnte die UNO, dem Land drohe die weltweit schlimmste Hungersnot seit Jahrzehnten.
Syrien – Blutige Tragödie seit 2001
Syrien wird mit eiserner Hand vom Assad-Clan regiert. Am 15. März 2011 begannen friedliche Demonstrationen für demokratische Reformen im Land, die der Sicherheitsapparat von Staatschef Bashar al-Assad niederschlagen ließ. Aus den Protesten wird ein bewaffneter Aufstand, der in einen bis heute andauernden Krieg mündet. Von Beginn an mischten zahlreiche ausländische Mächte mit. Nachdem Assad zunächst in der Defensive war, schaltete sich Russland 2015 militärisch ein. Das Blatt wandte sich zu Assads Gunsten, der auf die Unterstützung des Iran und der libanesischen Hisbollah-Miliz zählen kann. Inzwischen sind Aufständische, Rebellen und islamistische Milizen zurückgedrängt, Assad kontrolliert wieder bis zu 70 Prozent des Staatsgebietes. Bis heute wurden im syrischen Bürgerkrieg mehr als 380.000 Menschen getötet und Millionen Menschen in die Flucht getrieben.
Libyen – ein Land versinkt im Chaos
Auch in Libyen begannen die Proteste Mitte Februar 2011. Die Demonstrationen gegen Langzeit-Machthaber Muammar al-Gaddafi in der Hafenstadt Bengasi konnten nur kurzzeitig unterdrückt werden und weiteten sich zu einem bewaffneten Konflikt aus. Nach grünem Licht seitens der UNO griff eine von Washington, Paris und London geführte Militärkoalition in den Konflikt ein, die Hauptstadt Tripolis fiel im August in die Hände der Aufständischen. Am 20. Oktober 2011 endete nach 42 Jahren Gaddafis Herrschaft in Libyen. Er wurde auf der Flucht ermordet. Der ölreiche Mittelmeerstaat versank danach im Chaos. Zwei rivalisierende Parlamente und eine Vielzahl von Milizen kämpften um die Vorherrschaft im Land. Libyen ist zum Durchgangsland für Menschenschmuggler geworden, die Flüchtlinge vom afrikanischen Kontinent über das Mittelmeer nach Europa schleusen. Ende Oktober einigten sich die Konfliktparteien auf einen Waffenstillstand. (APA, AFP, TT)