Gebaute Utopien: Bettenburgen im westalpinen Niemandsland
Sebastian Schels’ und Olaf Unverzarts poetischer Abgesang in Buchform auf gebaute Utopien in den französischen Westalpen.
Von Edith Schlocker
Innsbruck – Als die beiden Münchner Fotografen Sebastian Schels und Olaf Unverzart 2018 und 2019 für ihr Buch „ÉTÉ“ in den französischen Westalpen unterwegs waren, um in 33 Wintersportorten touristische Architekturen zu fotografieren, war die Welt noch „normal“. Um die Monstrosität dieser schrägen Bettenburgen in ihrer ganzen Skurrilität einfangen zu können, haben sie ihre Reise in den Sommermonaten unternommen, wo die in üblichen Wintern pulsierenden Skiorte praktisch menschenleer sind, reduziert zu leicht schäbigen, in der steinigen Landschaft herumstehenden Kulissen.
Erscheinen die in den 1960er- und 70er-Jahren in mehr oder weniger renommierten großstädtischen Architekturbüros am Reißbrett entworfenen und schnell aus dem Boden gestampften Ferienkolonien heute doch auf absurde Weise irgendwie aus der Zeit gefallen. Als Zeitzeugen eines Denkens von Architektur, die in ihrer Maßstäblichkeit höchst problematisch daherkommt, als die Idee eines Bauens mit der Natur bzw. Landschaft noch kein Thema war, von den ökologischen Problematiken ganz abgesehen.
Diesen utopischen Architekturen, die nicht zuletzt des Klimawandels wegen zunehmend obsolet werden, setzen Schels und Unverzart mit ihren Fotografien ein feinsinniges Denkmal. Ist ihr ganz analog mittels Plattenkamera festgehaltener Blick doch ein genauso exakter wie liebevoll poetischer, um durch die Absenz von Menschen zu so etwas wie einem melancholischen Abgesang auf diese Fluchtorte für lufthungrige Städter zu werden.
Die Zeit, in der diese brutal ins „Niemandsland der Berge“ (Dietrich Erben) geklotzten Ferienparadiese mit oft mehreren tausend Hotelbetten bzw. Ferienwohnungen gebaut wurden, war die eines wachsenden Wohlstands und des in der Folge entstehenden Massentourismus. Das Ablaufdatum dieser Architekturen ist zwar längst überschritten, der lange verpönte Brutalismus der 1960er erlebt allerdings weltweit eine zarte Renaissance und somit vielleicht auch die bizarren Skylines in den französischen Westalpen.
Was ihn an diesen Bauten fasziniert habe, sei ihr Entstehen sozusagen aus dem Nichts, sagt der selbst von der Architektur herkommende Sebastian Schels. Um zunehmend der Faszination ihrer Vielgestaltigkeit zu erliegen. Können die Bauten in diesen absolut geschichtslosen Ferienorten doch raffiniert dekonstruiert, fast wie in sich zusammenstürzend daherkommen genauso wie als vielgeschoßig in die Höhe gestapelte Wohnmaschinen, als Pyramiden oder skulptural in die Landschaft gebettete Module, während andere wie behäbige Dampfer im Felsigen gestrandet zu sein scheinen. Holz und Beton sind die dominierenden Baustoffe dieser Architekturen, die im Gegensatz zu so vielen touristischen Pendants hierzulande immerhin absolut nichts klischeebesetzt Rustikales an sich haben.
Buch
Sebastian Schels/Olaf Unverzart: ÉTÉ. Mit einem Essay von Dietrich Erben. Kettler Verlag, 184 S., 98 Abb., 49 Euro.