Psychologin zu ein Jahr Corona-Pandemie: „Frustration macht sich breit“
Die Pandemie zehrt an den Kraftreserven der Menschen, sagt Psychologin Barbara Juen. „Die Menschen sehnen sich nach Normalität und Humor, nach Nähe und Berührung.“
Von Benedikt Mair
Innsbruck – Seit einem Jahr bestimmt das Coronavirus den Alltag – in Tirol, Österreich und weltweit. Neben wirtschaftlichen Folgen schlagen die zahlreichen Einschränkungen bei vielen besonders auf das Gemüt. Die Pandemie zehrt an den Kraftreserven der Menschen, sagt Barbara Juen, Expertin für Krisenpsychologie, Professorin an der Universität Innsbruck und Leiterin der Psychosozialen Dienste im Österreichischen Roten Kreuz.
„Im Februar des Jahres 2020, als die ersten Fälle bekannt wurden, konnte sich niemand das Ausmaß vorstellen, welches diese Krise angenommen hat“, sagt Juen. „Es ging Schlag auf Schlag, die Menschen waren ängstlich und auch schockiert.“
Kollektive Furcht und Trauer hätten zu Beginn der Pandemie durchaus dazu geführt, dass in der Gesellschaft ein großer Zusammenhalt herrschte. „Jetzt, ein Jahr später, dominiert nicht mehr das Gefühl der Angst, sondern jenes der Machtlosigkeit. Frustration macht sich breit. Die Menschen sind desillusioniert. Das wahre Ausmaß der Krise wird immer sichtbarer“, meint die Psychologin. Die Folgen: steigende Aggressionen, mehr Fälle von häuslicher Gewalt, Psychiatrien an der Belastungsgrenze.
„Natürlich steht nicht die ganze Bevölkerung am Rande der psychischen Krise“, hält Juen fest. „Aber viele spüren es. Die Menschen sehnen sich derzeit nach Normalität und Humor, nach Nähe und Berührung.“ Richtig kritisch werde es dann, wenn der Ausnahmezustand einmal ende. „Sobald der Stress nachlässt, wird dieser erst spürbar. Aus früheren Krankheitswellen wissen wir beispielsweise, dass nach deren Abklingen die Stresswerte beim Gesundheitspersonal noch zwei Jahre sehr hoch waren, öfter Krankenstand beansprucht wurde.“
Um Krisen und Katastrophen gut zu bewältigen, bedienen sich Menschen Referenzen aus der Vergangenheit, erklärt sie. „Manche Ältere setzen das aktuelle Geschehen in einen Rahmen, sagen etwa, es sei wie im Krieg, nur mit offenen Geschäften. Das hilft.“ Für die jüngere Generation könne Corona „bei der nächsten Pandemie – und viele Experten glauben, dass die kommt – ein nützlicher Bezugspunkt sein“.