„Bogners Abgang“: Das Geheimnis einer verregneten Nacht
Schuld ist das eine, Verantwortung dafür übernehmen etwas ganz anderes: Hans Platzgumers neuer Roman „Bogners Abgang“.
Innsbruck – Die Situation dürfte keinem Kunstschaffenden gänzlich fremd sein: Man buckelt sich blöd – und der Lohn aller Leistung ist die halböffentliche Demütigung durch den mehr oder weniger geübten Federstrich der Kritik. Die Liste literarischer Zeugnisse sich unverstanden wähnender Künstler ist lang. Schon Goethe drohte dem Rezensenten im gleichnamigen Gedicht mit Totschlag. Thomas Bernhard empfahl, seine Bücher am besten gleich von Schimpansen besprechen zu lassen. Und Martin Walser imaginierte 2002 den „Tod eines Kritikers“, der sich kaum anders lesen ließ denn als recht einfältig verschlüsselte Rachefantasie eines abgekanzelten Autors.
Nun hat Hans Platzgumer einen Künstler ersonnen, der sich von einem von der eigenen Bedeutung beeindruckten Kritiker niedergemacht fühlt – und den diese Kränkung zu nachtschlafender Stunde vor das Stammlokal des Besserwissers treibt. Dass dieser Besserwisser spitzfindige, aber durchaus plausible Argumente für seinen Verriss hat und der Künstler, er heißt Bogner, nicht gerade ein Sympathieträger ist, macht die Stimmung noch explosiver. Wie sie sich entlädt, sei an dieser Stelle nicht verraten. Platzgumers neuer Roman „Bogners Abgang“ ist zwar kein Krimi. Aber eine meisterhafte Fingerübung in Sachen geschickter Spannungsaufbau. Denn mit jedem neuen Detail, das Platzgumer über das mitternächtliche Zusammentreffen von Kunst und Kritik enthüllt, mit jedem neuen Aspekt, den er in seine kunstvoll aus verschiedenen Perspektiven zusammengesetzte Erzählung schiebt, erscheint die Geschichte in neuem Licht. Überraschend und doch bewundernswert konsequent waren die Wendungen und Volten, die in „Bogners Abgang“ alle Handlungsfäden verbinden. In den Ausläufern der Innsbrucker Innenstadt passiert ein Unfall. Das Auto fährt weiter, ein Mann bleibt schwer verletzt liegen. Er stirbt, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Die Polizei tappt im Dunkeln. Das jedenfalls berichten die Medien.
In Wahrheit ist der Sachverhalt komplizierter – unwahrscheinlicher, tragischer, tragikomischer. „Bogners Abgang“ ist eine dunkel-graue Komödie von beinahe Dürrenmatt’scher Dimension. Die Geschichte ist erst zu Ende, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.
Keine der Figuren gerät schuldlos in die unheilvollen Verstrickungen der verregneten Nacht. Weder der mit der Welt, Werk und Weltgeltung ringende Künstler Bogner. Noch der versehrt aus der fernen Hauptstadt zurückgekehrte Gernegroßkritiker Niederer. Oder die Studentin Nicole, die nur ein kleines bisschen über die Strenge geschlagen hat und sich zunächst um die Vertuschung ihrer Fahrlässigkeit bemüht. Und doch sind es weniger Schuldfragen, die Platzgumer in seinem atmosphärisch dichten Roman umtreiben, sondern die Frage, was es heißt, Verantwortung dafür zu übernehmen. Dinge passieren. Vieles hätte sich verhindern lassen. Durch etwas Nachdenken. Durch kurzes Durchatmen. Oder genaueres Hinsehen. Aus manchem könnte man sich heraus-, anderes ließe sich schönreden. Aber hinterher ist man bekanntlich immer gescheiter. Und nachträgliches Besserwissen gestattet Hans Platzgumer nur seinem Kunstkritiker. Als Erzähler geht es ihm in „Bogners Abgang“ darum, was es heißt, die Konsequenzen für das zu tragen, was man absichtsvoll oder unbedacht auf den Weg gebracht hat. Das macht den Roman, den Platzgumer schon vor Corona schrieb, zur brennend aktuellen Lektüre. Gerade in Tirol. Und das nicht nur, weil er seine Geschichte hier spielen lässt. (jole)
📚 Roman Hans Platzgumer: Bogners Abgang. Zsolnay, 144 Seiten, 20,60 Euro.