Österreich

Zehn Jahre nach Volksbegehren: „Alarmierender Weckschrei“ für Schulen

Durch die Corona-Pandemie sind Probleme im Bildungssystem verstärkt worden.
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Der einstige Initiator Hannes Androsch bilanziert zehn Jahre nach dem Bildungsvolksbegehren negativ. Das Land Österreich sei „sitzen geblieben“.

Von Karin Leitner

Wien – Vor zehn Jahren war es vonstattengegangen. Unter der Ägide des Industriellen und einstigen SPÖ-Vizekanzlers Hannes Androsch gab es ein Bildungsvolksbegehren: Eine große Reform wurde gefordert – von der „gemeinsamen Schule“ der Zehn- bis 14-Jährigen über das Aus für das Sitzenbleiben bis zu mehr Ganztagsschulen.

383.820 Bürger unterstützten die Anliegen, das waren weniger, als Androsch erhofft hatte. Die Hürde dafür, dass das Begehren im Nationalrat behandelt wird, war aber genommen; dafür sind zumindest 100.000 Unterschriften nötig. Mit „Österreich darf nicht sitzen bleiben“ war die Initiative ausgeschildert. Nun bilanzieren Androsch & Co: „Österreich ist sitzen geblieben.“ Keine der Anregungen sei von den seit 2011 jeweils Regierenden realisiert worden. Gar Rückschritte orten die Proponenten der damaligen Aktion. So seien etwa Ziffernnoten am Beginn der Volksschule wieder Pflicht.

Hannes Androsch.
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Sieben Verlangen präsentieren Androsch und seine Mitstreiter jetzt: „Wenn es vor zehn Jahren ein notwendiger Weckruf war, ist es jetzt ein alarmierender Weckschrei.“

Der Pädagoge und Kolumnist Nikolaus Glattauer verweist darauf, dass 2003, unter ÖVP-Bildungsministerin Elisabeth Gehrer, zwei Wochenstunden gestrichen worden sind. Ab dem kommenden Schuljahr sollte es diese wieder geben – „für digitales Lernen“, wie Glattauer sagt. Ein Pflichtfach sei geboten. In jeder Schule sei zu entscheiden, in welcher Form – für Fern- oder verstärkten Informatikunterricht. „Mobile Teams“ sollten an den Standorten unterstützen, also „digitale Betreuung vor Ort“. Es habe sich ob des „Distance Learnings“ gezeigt, dass es auch Lehrern an Fertigkeiten mangle. Kurse an Pädagogischen Hochschulen seien „zu wenig“ für diesen Belang.

Was die Digitalisierung anlangt, leben wir noch immer in der schulischen Kreidezeit.
Hannes Androsch (Industrieller)

Die Unternehmensberaterin Gundi Wentner plädiert dafür, dass „in diesem Ausnahme-Schuljahr“ Fünfer in den Abschlusszeugnissen „die Ausnahme“ sind. Und Schüler sollten nur dann durchfallen können, wenn Lehrer und Eltern zu dem Schluss kommen, dass das besser sei, als aufzusteigen: „Kein Kind soll heuer gegen seinen Willen sitzen bleiben.“ Dies würde viel Druck nehmen. Wegen der Pandemie-Bedingungen können Noten aus der Sicht Wentners ohnehin nicht objektiv sein. Sie drängt auch auf „starke Individualisierung der Angebote“. Einst hätten Kinder reicher Frauen und Männer Hauslehrer gehabt, nunmehr sollte es solche für „unerreichbare Kinder“ geben, wenn Schulen wegen des Coronavirus wieder geschlossen sind.

Dass diese auch in den Sommerferien offen sind, dafür spricht sich der ehemalige AHS-Direktor Erwin Greiner aus. Nicht nur betreut sollten Kinder dort werden, auch Lernhilfe in allen Fächern sei zu offerieren.

Die Vorsitzende der Initiative „BildungGrenzenlos“, Heidi Schrodt, wendet sich einmal mehr gegen die während der türkis-blauen Koalition installierten „Deutschförderklassen“. Für viele Schüler habe es wegen der schwierigen Lage Erleichterungen gegeben, etwa in Sachen Matura, für Kinder in Deutschförderklassen, die es schon vor der Krise schwer gehabt hätten, nicht. „Sie mussten die Tests machen, mittels derer über die Zuweisung in eine Deutschförder- oder eine Regelklasse entschieden wird.“ Diese Test sollten ausgesetzt werden, sagt Schrodt. Neu auszurichten sei die Deutschförderung – „autonom vor Ort und individuell angepasst“.

Mehr Personal für die Kindergärten sei vonnöten, konstatiert der Bildungsaktivist Daniel Landau; maximal sieben Kinder sollten in einer Gruppe sein. „Davon sind wir meilenweit weg.“ Bei den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung müssten die Kindergartenpädagogen „in Richtung der AHS-Lehrerinnen angepasst werden“. Für die Volksschullehrer sollte das ebenfalls gelten.

Glattauer moniert auch den Umgang der Regierenden mit den Sonderschulen – „dem Stiefkind im Schulsystem“. Diese hätten in Sachen Corona von Türkisen und Grünen „eine unerklärliche Sonderstellung bekommen. Wie Kindergärten blieben sie von Schließung oder Schichtbetrieb lange Zeit ausgenommen.“ Abgesehen davon sollte Schluss sein mit dem „stigmatisierenden“ Terminus, sagt Glattauer. „Die ,Sonderschule’ darf nicht länger Sonder-Schule sein. Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen und Förderbedarf haben in allen Bildungseinrichtungen ein Recht auf gleiche Behandlung.“ Eine „inklusive Schule“, wie in anderen Ländern üblich, sei an der Zeit.

Rasch politisch zu handeln sei, sagen Androsch und die Seinen. Die „soziale Kluft“ sei schon vor der Pandemie groß gewesen. Diese habe sie „verbreitert. Wir sind von Chancengerechtigkeit weiter entfernt als je zuvor.“