Happy Ends mit Kollateralschäden: Marvels vierte Phase auf Disney+
Marvels Kinohelden aus der zweiten Reihe ringen inzwischen beim Streamingdienst Disney+ mit ihren Traumata.
Von Joachim Leitner
Innsbruck – Corona hat auch den König des Kommerzkinos in die Bredouille gebracht. Dieser König heißt Disney – und er regiert vom Reißbrett aus. 2009 schluckte der Konzern den Comicverlag Marvel und dessen Filmstudio. Mit den dort konzipierten Superhelden-Filmen revolutionierte Disney im vergangenen Jahrzehnt die Branche von oben. Das „Marvel Cinematic Universe“ (MCU) entwickelte sich zum höchst lukrativen geschlossenen System. 23 Filme, weltweites Gesamteinspielergebnis: mehr als 23 Milliarden Dollar. Jeder Film ist zugleich Trailer für den nächsten, jedes Abenteuer Vorgeschmack auf das, was noch kommen soll: Das MCU ist keine Filmreihe, sondern eine Seifenoper mit Schauwerten: bunt, pathetisch, formelhaft. Irgendwann galt es nicht mehr nur die Welt zu retten, das Universum stand auf dem Spiel. Damit und mit dem Blockbuster „Avengers: Endgame“ ging 2019 Phase drei des MCU zu Ende.
Dann kam Corona – und der Start in die vierte Phase musste verschoben werden. Jedenfalls im Kino. „Black Widow“ mit Scarlett Johansson hätte im April 2020 anlaufen sollen. Inzwischen wird der Juli 2021 anvisiert. Zeitgleich soll der Film für eine Zusatzgebühr auf Disney+, dem konzerneigenen Streamingdienst, angeboten werden. Hierzulande ging Disney+ vor einem Jahr online. Weltweit hat die Plattform, auf der aktuell mehr als 1100 Filme und 280 Serien abrufbar sind, rund 100 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten.
Auf Disney+ hat Marvels vierte Phase bereits begonnen. Das war schon in vorpandemischen Zeiten geplant: Die Kinoserie wird um exklusive Streamingformate erweitert. Den Anfang machte im Jänner „WandaVision“. Mitte März folgte „The Falcon and the Winter Soldier“. Seither wird jeden Freitag eine neue Folge veröffentlicht.
Nicht zuletzt wegen ihrer Extravaganz mauserte sich die inzwischen komplett abrufbare, 9-teilige Miniserie „WandaVision“ schnell zum Kritikerliebling, denn „WandaVision“ spielt mit dem, was Fernsehkritiker kennen und lieben: mit dem Fernsehen. Mit viel Liebe zum Detail werden in den einzelnen Folgen populäre Sitcom-Muster der vergangenen fünf Jahrzehnte nachgestellt – vom statischen Schwarz-Weiß der 50er-Jahre bis zu „Modern Family“. 200 Mio. Dollar soll Disney für die Serie ausgegeben haben. Sie sieht tatsächlich toll aus. Dass „WandaVision“ trotz und auch wegen ihres offensiven Stilwillens etwas behäbig auf ein erschreckend vorhersehbares Ende – und den überübernächsten Film – zusteuert, tat der veröffentlichten Begeisterung keinen Abbruch. Im Kern handelt die Serie von Trauer und Trauma ihrer Protagonistin Wanda (Elizabeth Olsen): Auch Übermenschen leiden an den Folgen der weltbewegenden Erschütterungen, die sie einst bekämpften.
Obwohl ästhetisch ungleich enger an die Vorgaben der Kinofilme gebunden – sprich: reicher an Farben und vordergründiger Action –, stößt „The Falcon and the Winter Soldier“ in dieselbe Richtung: Auch hier geht es vornehmlich um das, was vom „Endgame“ übrig blieb. Überhaupt sind die bisherigen Marvel-Serien Versuche, die Verhältnisse zu erden – und die Konsequenzen der Kinospektakel zu erzählen. Es geht um die Kollateralschäden eines Happy Ends: Was passiert mit einer Welt, deren Bevölkerung von einem Schurken um die Hälfte dezimiert wurde, wenn die Ausgelöschten wieder da sind, also nicht nur ihr Leben zurückkriegen, sondern auch ihre Lebensgrundlage zurückfordern? Wie ist es um die ökonomischen Bedingungen eines Superhelden wie Falcon (Anthony Mackie) bestellt, der zumeist in der zweiten Reihe der Weltenretter stand? Was geschieht, wenn der geläuterte Auftragsmörder Winter Soldier (Sebastian Stan) auf die Familie seiner Opfer trifft? In den ersten zwei Folgen reißt „The Falcon and the Winter Soldier“ diese Themen genauso an wie den Rassismus in der US-Polizei. Diese Probleme lassen sich nicht mit Backpfeifen lösen. Und auch nicht mit harmlosen Gags, in die sich die Protagonisten bisweilen flüchten. Gerade der erdenschwere Ernst hinter den Gags aber macht die Serie sehenswert – und Hoffnung. Nicht nur für „The Falcon and the Winter Soldier“, sondern auch fürs Kino. Aktuell sind sechs neue Marvel-Filme in Produktion – und ein weiteres Dutzend entsteht gerade am Reißbrett.
Marvels Superhelden-Universum geht in seine vierte Phase
Das Marvel Cinematic Universe umfasst derzeit 23 zwischen 2008 und 2019 veröffentlichte Filme. Film Nummer 24, „Black Widow“, mit Scarlett Johansson soll am 8. Juli 2021 in den US-Kinos anlaufen. Bis Ende des Jahres sind drei weitere Marvel-Filme angekündigt, darunter das neue Spider-Man-Abenteuer „No Way Home“, das im Dezember 2021 starten soll.
Zahlreiche Serien für das Fernsehen und Streamingportale basieren auf Marvel-Comics. Von 2015 bis 2017 kooperierte der dem Disney-Konzern gehörende Verlag für fünf Serien mit dem Streamingdienst Netflix. Es entstanden unter anderem „Daredevil“, „Jessica Jones“ und „The Punisher“.
Für den konzerneigenen Streamingdienst Disney+ wurden bislang drei Serien produziert. „WandaVision“ ist dort bereits komplett abrufbar. „The Falcon and the Winter Soldier“ startete am 19. März. „Loki“ soll am 11. Juni folgen. Drei weitere Serien sind aktuell in Produktion.