US-Abzug aus Afghanistan in Kabul umstritten
Die US-Entscheidung über einen bedingungslosen Abzug aller Truppen aus Afghanistan bis zum 11. September hat in dem Krisenland unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. In der afghanischen Regierung nah stehenden Kreisen war am Mittwoch vom „Verantwortungslosesten und Egoistischsten“ die Rede, was Amerika seinen afghanischen Partnern zufügen könne. Die militant-islamistischen Taliban bestehen hingegen auf dem ursprünglich vereinbarten Termin für einen Rückzug bis zum 1. Mai.
Mit Spannung wird nun erwartet, welche Konsequenzen die Entscheidung für die laufenden Friedensverhandlungen zwischen afghanischer Regierung und Taliban in Doha (Katar) hat. Als Risiko gilt, dass die Taliban kurz nach einem Truppenabzug mit Waffengewalt die Macht übernehmen könnten. Für die junge Demokratie in Afghanistan und Fortschritte bei Frauenrechten oder Medienfreiheit wäre dies wohl der Todesstoß.
Ein Mitglied des Verhandlungsteams der Regierung bei den Friedensgesprächen in Doha, das namentlich nicht genannt werden wollte, erklärte, der Abzug möge das Ende des Krieges für die USA sein, aber die Afghanen würden den Preis dafür zahlen. Die USA hätten den Krieg mit etwas mehr Geduld auf „verantwortungsvolle Weise“ beenden können. Der Abzug der internationalen Truppen war die Hauptforderung der Taliban. Nun bleiben der Regierung kaum mehr Druckmittel in den seit September laufenden Friedensverhandlungen mit den Extremisten.
Zugleich wurden die US-Ankündigungen auch von den Taliban kritisiert, weil die bis Jänner amtierende Regierung von Donald Trump über das sogenannte Doha-Abkommen eigentlich einen Abzug bis Ende April in Aussicht gestellt hatte. Taliban-Sprecher Zabiullah Mujahid erklärte, falls die Vereinbarung gebrochen werde, würden sich die „Probleme verschärfen“. Mit Blick auf die USA und andere Truppensteller fügte er hinzu, jene, die sie nicht einhielten, würden dafür haftbar gemacht. Wenn das Abkommen eingehalten werde, gebe es einen Weg, um die verbleibenden Probleme anzugehen.
Damit spielte er auf den laufenden innerafghanischen Friedensprozess an. Die Friedensverhandlungen waren zuletzt ins Stocken geraten. Auch an einer US-initiierten Friedenskonferenz Ende April in der Türkei wollen die Taliban nun nicht mehr teilnehmen. Die laufenden Gespräche in Doha allerdings wolle man weiterführen, sagte Mujahid der Deutschen Presse-Agentur.
Weitere Reaktionen in Afghanistan fielen emotionaler aus als üblich. Der Vorsitzende des Hohen Rats für Nationale Aussöhnung, Abdullah Abdullah, sagte er denke nicht, dass die Unterstützung der Welt mit der Abzugsankündigung aufhöre. Er hoffe, dass die Taliban nun anders kalkulierten. Bisher hatten die Islamisten immer die Präsenz der US-Truppen als Grund für Gewalt angeführt. Internationale Truppen hin oder her, sagte Abdullah, „der Weg zur Lösung des Problems ist Frieden“. Eine offizielle Reaktion des Präsidentenpalasts stand noch aus.
Manche Afghanen begrüßten den Abzug und sagten, die USA hätten ohnehin nicht ewig bleiben können. Nicht wenige äußerten Angst vor einer möglichen gewaltsamen Machtübernahme durch die Taliban. Die Gewalt im Land ist weiter hoch. Einem am Mittwoch von der UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) veröffentlichten Bericht zufolge nahm die Zahl der zivilen Opfer in dem Konflikt im ersten Quartal deutlich zu.
Am Dienstag war bekannt geworden, dass die Vereinigten Staaten als größter Truppensteller in Afghanistan ihre Soldaten ohne Bedingungen zum 11. September abziehen wollen - deutlich später als mit den Taliban im vergangenen Jahr in einem Abkommen vereinbart. Diese Vereinbarung sieht vor, dass alle US- und internationalen Truppen bis zum 1. Mai das Land verlassen. Sie wurde noch in der Amtszeit des früheren US-Präsidenten Donald Trump geschlossen. Der neue Präsident Joe Biden will dies nun ändern.
„Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden“, sagte Biden am Mittwoch nach im Voraus veröffentlichten Auszügen aus einer Rede. „Es ist Zeit für die amerikanischen Truppen, nach Hause zu kommen.“ Es sei nicht möglich, die Militärpräsenz immer wieder in der Erwartung zu verlängern oder zu vergrößern, die „idealen Bedingungen“ für einen Abzug zu schaffen.
„Obwohl wir in Afghanistan nicht weiter militärisch involviert sein werden, wird unsere diplomatische und humanitäre Arbeit weitergehen“, sagte Biden den Auszügen zufolge weitere Unterstützung zu. Die USA würden Afghanistans Regierung, die Sicherheitskräfte und auch die Friedensverhandlungen mit den militant-islamistischen Taliban weiter unterstützen. Biden wollte den Beschluss am Mittwochnachmittag (20.15 Uhr MESZ) offiziell im Weißen Haus verkünden.
US-Außenminister Antony Blinken verteidigte unterdessen die Abzugsentscheidung. Man habe gemeinsam mit den Verbündeten die Ziele erreicht, die man sich gesteckt habe, sagte er bei einem Gespräch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Nun sei es an der Zeit, die Truppen nach Hause zu bringen. Als Hauptziel des NATO-Einsatzes galt, dass Afghanistan nie wieder ein Rückzugsort für Terroristen wird, die NATO-Länder angreifen können.