Niederösterreicherin Polleres holt in Tokio Judo-Silber
Auf der Matte ist Judokämpferin Michaela Polleres allein gestanden, aber gejubelt wurde anschließend im Kollektiv. Die Niederösterreicherin gewann am Mittwoch bei den Olympischen Spielen in Tokio die Silbermedaille in der Klasse bis 70 kg. Die 24-Jährige musste sich erst im Finale der Japanerin Chizuru Arai geschlagen geben. Mit WM-Bronze und Edelmetall bei Olympia innerhalb von eineinhalb Monaten hat sie mehr erreicht, als sie zu träumen wagte.
Für den Österreichischen Judoverband war es die bereits zweite Medaille in Japan. Am Vortag hatte Shamil Borchashvili (bis 81 kg) Bronze erobert. Ein erster Medaillensatz für das Österreichische Olympische Komitee ist nach fünf vollen Wettkampftagen damit auch bereits komplett. Gold hatte sensationell Anna Kiesenhofer im Rad-Straßenrennen geholt.
„Boah! Die gehen drunter und drüber, ich kann es nicht wirklich beschreiben“, versuchte Polleres, umringt von den Teamkolleginnen, ihre Gefühle in Worte zu fassen. „Ich bin überglücklich, erleichtert, einfach alles. Ich war schon ein bisschen nervös heute, musste mich zusammenreißen.“ Aber die Nervösität sei von Kampf zu Kampf weniger geworden.
Polleres setzte sich im Halbfinale im Duell der beiden WM-Dritten von Budapest gegen die Niederländerin Sanne van Dijke mit einer Waza-Ari-Wertung durch. „Gegen die Van Dijke hatte ich auch ein bisschen Angst. Aber es ist so gut gelaufen für mich, ich bin ganz schön stolz, dass ich so gute Kämpfe abgelegt habe.“
Die 27-jährige Arai hatte mit der Russin Madina Taimasowa - sie trug deutliche Spuren im Gesicht davon - in der Vorschlussrunde länger zu kämpfen, siegte nach einem Marathon-Duell erst im Golden Score nach 12:41 Minuten. Derweil stand Polleres als nächste an der Reihe auf der Seite der Halle und ließ sich nicht drausbringen. „Das passiert schon hin und wieder, aber es dauert nicht immer ganz so lange. Das hat mich nicht besonders gestört.“
Im Finalkampf mobilisierte Arai noch einmal alle Kräfte, brachte Polleres auf den Boden und sich selbst die letztlich entscheidende Waza-Ari-Wertung ein. Polleres blieb aktiv, ihre japanische Kontrahentin, Weltmeisterin von 2017 und 2018, brachte den Festhaltegriff aber über die Zeit. Die Bronzemedaillen sicherten sich Taimasowa und Van Dijke.
„Ich habe bis zum Schluss gekämpft, ich habe alles gegeben. Bis zu letzten Sekunde. Es hat leider nicht gereicht. Es ist schon Wehmut dabei. Man steht im Finale, sicher will man gewinnen. Aber ich bin trotzdem zufrieden und glücklich mit der Silbermedaille“, sickerte bei Polleres langsam, was sie erreicht hatte. Ein paar Stunden später sagte sie, dass der schönste Moment gewesen sei, als sie sah, wie sich alle mit ihr freuten. „Ich war erst traurig und enttäuscht. Aber als ich von der Matte runterging und Yvonne sah und die Teamkolleginnen, waren da nur noch Freudentränen.“
Am Donnerstag wird sie selbst wieder zu den Unterstützerinnen zählen. Eine lange Feier ist nicht drinnen, weil früh der Wecker läutet. Polleres wird mit Bernadette Graf in die Halle fahren und mit ihr vor deren Antreten in der Kategorie bis 78 kg aufwärmen. „Mittlerweile bin ich auch schon müde. Ein Wettkampftag ist ohnehin schon lang, aber die ganzen Interviews sind noch eine ganz andere Belastung“, gestand Polleres um kurz vor Mitternacht (Ortszeit) im Video-Call mit Journalisten.
Auf dem Weg zum Poolsieg hatte sich Polleres gegen die Irin Megan Fletcher (Waza-Ari), die Südkoreanerin Kim Seongyeon (im Golden Score mit Waza-Ari) und die Weltranglisten-Siebente Barbara Matic aus Kroatien (Waza-Ari) durchgesetzt. Zuvor war da ein Ippon zurückgenommen worden. „Es kann leider immer passieren. Wichtig ist, dass man dann fokussiert bleibt und nicht schon abgeschlossen hat“, sagte von Nationaltrainerin Yvonne Bönisch gecoachte Kämpferin vor der Finalsession. „Der Sieg gegen Matic hat mir viel Selbstvertrauen gegeben und gezeigt, dass ich jeden schlagen kann.“
Im WM-Halbfinale in Budapest war Polleres Matic noch unterlegen. Auch Fletcher und Kim waren bei der Ungarn-WM im Juni Gegnerinnen, beide besiegte sie auch damals. Als erste ÖJV-Medaillengewinnerin bei Welttitelkämpfen seit elf Jahren hatte Polleres bereits dort bewiesen, dass sie ganz vorne mitkämpfen kann. „Mir wurde eine Last von den Schultern genommen, ich habe neues Selbstvertrauen bekommen“, sagte die Weltranglisten-Achte aus Ternitz über das WM-Turnier vor eineinhalb Monaten. Zwei so große Medaille in der Kürze der Zeit konnte man aber nicht erträumen, denn dies war nur wegen der Corona-Pandemie so angesetzt gewesen.
Polleres begann mit acht Jahren mit dem Judosport. „Mit Judo konnte nichts konkurrieren, ich habe ein paarmal versucht, Tennis zu spielen. Bei einer Judovorführung in der Schule dachte ich mir, das schaut cool aus, das probiere ich.“ Der Start verlief aber etwas holprig, denn Polleres war immer schon eher zurückhaltend. „Ohne meine Eltern wäre nichts gegangen. Mama hat mich regelmäßig hingebracht zum Training. Ich habe einen kleinen Schubs gebraucht, weil ich so schüchtern war. Dann habe ich neue Freunde kennengelernt. Es hat so viel Spaß gemacht, dass ich dabeigeblieben bin.“
Ihr Vereinstrainer ist seit vielen Jahren Adi Zeltner. Anfang Jänner wurde der Kreis mit der deutschen 2014-Olympiasiegerin Bönisch erweitert. „Es ist ihre Ruhe, die mich manchmal aus der Ruhe bringt“, sagte diese über Polleres. Doch diese Ruhe würde ihren Schützling auch auszeichnen. Die Nerven nicht wegzuschmeißen sei sicher kein Nachteil in einem Olympiaturnier, meinte Bönisch. Das zeigte Polleres im altehrwürdigen Budokan von Tokio eindrucksvoll.