Taliban eroberten 15. Provinzhauptstadt in Afghanistan

Nach der zweitgrößten Stadt Kandahar ist eine weitere Provinzhauptstadt in Afghanistan an die Taliban gefallen. Firuzkoh in der Provinz Ghor im Westen des Landes sei von den Islamisten übernommen worden, bestätigten ein Provinzrat und eine Parlamentarierin der Deutschen Presse-Agentur am Freitag. Damit fiel die 15. Provinzhauptstadt innerhalb einer Woche an die Taliban.

Die Stadt mit geschätzt 130.000 Einwohnern sei ohne jeglichen Widerstand von den Islamisten übernommen worden, sagte der Provinzrat Fazal-ul Haq Ehsan. Die Sicherheitskräfte und mehrere Regierungsvertreter hätten sich in eine Militärbasis in der Stadt zurückgezogen.

Die Abgeordnete Fatima Kohistani, die die Provinz im afghanischen Parlament vertritt, machte dem Gouverneur von Ghor Vorwürfe. Dieser habe fliehen wollen, aber als ihm das nicht gelungen sei, habe er die Stadt an die Islamisten praktisch übergeben. Die Sicherheitskräfte und Offiziellen in der Militärbasis würden nun darauf warten, dass die Taliban ihnen Autos geben würden, damit sie die Stadt verlassen könnten. Es seien praktisch keine Menschen geflohen, sagte die Parlamentarierin weiter. Viele hätten die gleichen Einstellungen wie die Taliban.

Mit Firuzkoh haben die Taliban binnen einer Woche 15 der 34 Provinzhauptstädte eingenommen. In der Nacht auf Freitag (Ortszeit) war die zweitgrößte Stadt Kandahar im Süden des Landes an sie gefallen, am Freitag früh noch die wichtige Stadt Lashkar Gah in Kandahars Nachbarprovinz Helmand. Afghanistan besteht aus 34 Provinzen.

Herat, die drittgrößte Stadt Afghanistans, ist unterdessen nach Angaben eines Regierungsbeamten nun größtenteils in der Hand der Taliban. Die Regierungstruppen würden in der Stadt mit ihren 600.000 Einwohnern an der Grenze zum Iran nur noch den Flughafen und ein Armeelager kontrollieren, sagt ein Regierungs-Beamter. „Familien haben die Stadt entweder verlassen oder verstecken sich in ihren Häusern.“

Nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace steht Afghanistan vor einem Bürgerkrieg. Der Westen müsse verstehen, dass die Taliban keine Einheit seien, sondern ein Sammelbecken für zahlreiche, miteinander rivalisierende Interessen, sagte Wallace der BBC. „Und ich denke, wir steuern auf einen Bürgerkrieg zu.“

Tom Tugendhat, der Chef des Auswärtiges Ausschusses im britischen Parlament kritisierte unterdessen den Abzug der USA und ihrer Alliierten aus Afghanistan. „Mit der Entscheidung zum Rückzug wurde unseren Partnern der Teppich unter den Füßen weggezogen“, twitterte Tugendhat in der Nacht auf Freitag. „Nach 20 Jahren, Milliarden Dollar und Tausenden Menschenleben wirkt das Engagement in Afghanistan wie eine Affäre.“ Das Ende des Einsatzes sei „unnötig und verschwenderisch“.

„Das ist schlecht für uns - es lässt uns unzuverlässig erscheinen. Es ist schlecht für unsere Verbündeten - es stellt sie bloß. Es ist schlecht für unsere Zukunft - Rivalen werden ermutigt, uns herauszufordern“, schrieb der konservative Politiker. „Und es musste nicht passieren. Wir haben uns entschieden zu gehen. Wir sind nicht gezwungen worden.“

Großbritannien kündigte den Einsatz von 600 Spezialkräften an, um die Ausreise britischer Staatsbürger zu unterstützen. Das Internet-Portal „Politico“ zitierte einen ranghohen Offiziellen in London mit den Worten, die Situation sei vergleichbar mit „dem letzten Heli aus Saigon“.

Botschafter Laurie Bristow und ein kleines Team blieben im Land, würden aber an einen „sichereren“ Ort in Kabul umziehen, teilte die britische Regierung weiter mit. Medienberichten zufolge sind noch etwa 4.000 Briten in Afghanistan.

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