Taliban stehen vor Kabul

Auf ihrem rasanten Eroberungsfeldzug in Afghanistan haben sich die islamistischen Taliban bis auf wenige Kilometer an die Hauptstadt Kabul herangekämpft. Präsident Ashraf Ghani sprach am Samstag von einer schlimmen Lage. Nun stelle sich die „historische Aufgabe“, den Tod weiterer Unschuldiger zu verhindern. Westliche Staaten beschleunigten unterdessen ihre Bemühungen, eigenes Personal und afghanische Ortskräfte vor den rasch vorrückenden Extremisten in Sicherheit zu bringen.

Seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen haben die Taliban große Teile des Landes erobert. Mittlerweile stehen 20 der 34 Provinzhauptstädte unter ihrer Kontrolle. Die Aufständischen wollen ein „Islamisches Emirat Afghanistan“ errichten, so wie schon vor dem Einmarsch der US-Truppen im Jahr 2001.

Am Samstag habe es Gefechte um Maidan Shar gegeben, Hauptstadt der rund 35 Kilometer von der afghanischen Hauptstadt Kabul gelegenen Provinz Maidan Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der Deutschen Presse-Agentur. Die Taliban beherrschten bereits einen Großteil der Provinz.

In Kabul trafen unterdessen erste US-Soldaten ein, die Evakuierungen sichern sollen. Bis Sonntag würden weitere Truppen eintreffen, sagt ein US-Vertreter. Allerdings versuchten die Islamisten, die Hauptstadt mit ihren vier Millionen Einwohnern zu isolieren, sagte Ministeriumssprecher John Kirby. Es bestehe durchaus die Gefahr, dass die Taliban innerhalb weniger Tage auf Kabul vorrücken könnten. „Afghanistan gerät außer Kontrolle“, warnte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres. Er forderte die Taliban auf, ihre Offensive sofort zu stoppen.

Die Regierung von Katar forderte die Taliban am Samstag zur Deeskalation auf. Die Taliban müssten einen Waffenstillstand annehmen und damit zu einer „umfassenden politischen Lösung“ für Afghanistan beitragen, erklärte das katarische Außenministerium am Samstag. Zuvor hatte sich der katarische Außenminister Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al-Thani mit dem Chef des politischen Büros der Taliban in Doha, Mullah Abdul Ghani Baradar, getroffen. Es war die bisher deutlichste Aufforderung Katars an die Taliban, ihre gewaltsame Offensive in Afghanistan zu drosseln. Katar richtet die innerafghanischen Friedensgespräche aus, die seit Monaten nicht vorankommen.

Landesweit gingen die Kämpfe am Samstag in mindestens fünf Provinzen weiter. Die militanten Islamisten konnten zwei kleine Provinzhauptstädte übernehmen: Sharana in der Provinz Paktika mit geschätzt 66.000 Einwohnern sei nach Vermittlung Ältester den Taliban kampflos übergeben worden, bestätigten lokale Behördenvertreter. Wenig später bestätigten mehrere lokale Behördenvertreter, dass Regierungsvertreter und Sicherheitskräfte auch Asadabad, die Hauptstadt der Provinz Kunar im Osten des Landes mit geschätzt 40.000 Einwohnern, verlassen hätten. Man habe so zivile Opfer und Zerstörung verhindern wollen.

Zuvor waren mit Herat und Kandahar bereits die dritt- und die zweitgrößte Stadt des Landes an die Islamisten gefallen. Mit Pul-i Alam in der Provinz Logar haben die Taliban auch eine Provinzhauptstadt rund 70 Kilometer südlich von Kabul eingenommen.

Der afghanische Präsident äußerte sich nach langem Schweigen in einer TV-Ansprache zur dramatischen militärischen Lage. Dabei ging er aber nicht auf Spekulationen ein, er könne zurücktreten, um den Weg für eine Einigung mit den Islamisten frei machen. Er spreche mit politischen Führern und internationalen Partnern und wolle „bald“ Ergebnisse vorstellen, sagte er lediglich.

Da der Widerstand der afghanischen Regierungstruppen bröckelt, bemühen sich westliche Staaten fieberhaft, Landsleute und Botschaftspersonal in Sicherheit zu bringen. Die US-Regierung hatte angekündigt, dafür vorübergehend rund 3.000 Soldaten zu entsenden. Großbritannien will rund 600 Soldaten nach Kabul entsenden, um Botschaftspersonal und einheimische Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen.

Auch die deutsche Bundeswehr plant einen großen Evakuierungseinsatz und weitere Länder organisieren die Ausreise ihrer Botschaftsangehörigen sowie von Ortskräften und Beschäftigten deutscher Organisationen. Österreich unterhält in Kabul keine Botschaft, der Amtsbereich Afghanistan wird von Islamabad aus betreut.

Paris will afghanischen Ortskräften und anderen gefährdeten Personengruppen unkompliziert Schutz in Frankreich gewähren. Als eines von nur drei Ländern stelle Frankreich weiterhin in Kabul Visa aus, hieß es am Freitagabend aus Élyséekreisen. Man unternehme „außerordentliche Anstrengungen“, um etwa afghanischen Künstlern, Journalisten und Vorkämpfern der Menschenrechte den Zugang nach Frankreich zu erleichtern.

Guterres sagte, die Staatengemeinschaft müsse deutlich machen, dass „eine Machtergreifung durch militärische Gewalt ein aussichtsloses Unterfangen ist“. Dies könne nur „zu einem längeren Bürgerkrieg oder der kompletten Isolation Afghanistans führen“. Die Vereinten Nationen hatten am Donnerstag vor einer humanitären Katastrophe gewarnt und die Nachbarn Afghanistans aufgerufen, ihre Grenzen für Flüchtlinge offenzuhalten.

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) forderte die Taliban auf, „ihr rücksichtsloses Vorgehen sofort zu stoppen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren“. In einer der APA in der Nacht auf Samstag übermittelten Stellungnahme ließ Schallenberg die radikal-islamistischen Milizen wissen: „Man kann nicht die eine Hand zum Dialog ausstrecken und mit der anderen weiter die Waffe umklammern.“ Österreich unterstütze die intensiven Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, die Friedensgespräche in Doha voranzubringen.

Die afghanische Politikerin und Ärztin Sima Samar zeigte sich in den „Salzburger Nachrichten“ äußerst besorgt: „Die Situation ist beängstigend. Nicht nur für Frauen. Es ist eine fürchterliche Situation für die gesamte Zivilbevölkerung. Das öffentliche Leben stockt, die Menschen sind vorsichtig“, schilderte die 64-Jährige, die von 2001 bis 2002 erste Ministerin für Frauenangelegenheiten in Afghanistan war, die aktuelle Situation. „Wo immer die Taliban jetzt schon an der Macht sind, können Frauen das Haus nicht mehr ohne Männer verlassen. Mädchen können nicht mehr zur Schule gehen. Die Taliban haben sich nicht verändert“, sagte Samar, die um mühsam errungene Fortschritte bei der Durchsetzung von Frauenrechten durch fürchtet. „Alles, was wir erreicht haben ist gefährdet“, sagte Samar gegenüber der Zeitung und drückte ihre Hoffnung aus, „dass die internationale Gemeinschaft uns zur Seite steht“.

Der deutsche EU-Staatsminister Michael Roth (SPD) erwartet, dass sich durch die Lage in Afghanistan der Flüchtlingsdruck auf die Europäische Union und Deutschland stark erhöhen werde. Auch Tirols Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) rechnet „mit einer größeren Flüchtlingswelle“, die nicht zuletzt wegen der Situation in Afghanistan „nicht auszuschließen“ sei, wie er im APA-Sommerinterview sagte.

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