18-Jähriger nach Messerattacke auf Zugbegleiter vor Gericht
Ein Zugbegleiter hätte am 25. März 2021 im Regionalexpress REX 41 von Wien nach Tulln um ein Haar sein Leben verloren. Als der 56-Jährige die Fahrkarte eines 17-Jährigen kontrollieren wollte, konnte dieser kein gültiges Ticket vorweisen. Stattdessen attackierte er den Mann mit einem Brotmesser und fügte ihm schwerste Verletzungen zu. Am Dienstag wurde der mittlerweile 18-Jährige vom Wiener Landesgericht in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.
Der Bursche leidet an einer schweren Form des Asperger-Syndroms und war einem psychiatrischen Gutachten zufolge im Tatzeitpunkt zurechnungsunfähig. Mangels Schuldfähigkeit wurde ihm daher die Bluttat nicht als versuchter Mord angelastet, die Staatsanwaltschaft Wien hatte stattdessen seine Unterbringung im Maßnahmenvollzug beantragt. Ein Schwurgericht (Vorsitz: Daniel Rechenmacher) leistete diesem Begehren Folge, die Entscheidung ist rechtskräftig.
Wie die Verhandlung zeigt, hätte sich der psychisch Kranke zum Zeitpunkt der Bluttat längst in stationärer Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden können, wäre alles glatt gelaufen. Zwei Wochen zuvor war er von der Polizei in ein Krankenhaus gebracht worden, nachdem er einer ehemaligen Mitschülerin, die er eineinhalb Jahre gestalkt hatte, wieder einmal aufgelauert hatte und Klassenkameradinnen das Mädchen gewarnt hatten, weil der Bursch angeblich ein Messer dabei hatte. Hätten die Beamten bei dieser Gelegenheit im Polizeicomputer nachgeschaut, wäre ihnen aufgefallen, dass die Staatsanwaltschaft St. Pölten bereits ein Strafverfahren wegen beharrlicher Verfolgung gegen den Jugendlichen führte und die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens in Auftrag gegeben hatte.
In dem Krankenhaus, in das die Polizei den Burschen brachte, wurde er abgewiesen - zuständig sei ein Wiener Spital, hieß es dort. Er kehrte darauf zu seiner Großmutter zurück, bei der er lebte. Am 24. März - einen Tag vor der Bluttat - verständigte diese die Polizei, weil sie mit den Enkelsohn nicht mehr zurande kam und ihn nicht mehr in ihrer Wohnung wissen wollte, zumal er seine Tabletten nicht einnehmen wollte. Bereits 2019 war der Jugendliche wegen einer gegen die Großmutter gerichteten gefährlichen Drohung vor Gericht gestanden. Ausgangspunkt war ein Streit um die Medikamente bzw. Behandlung des psychisch Kranken gewesen. Dieses Verfahren hatte mit einem Freispruch aus formaljuristischen Gründen geendet.
Die von der Großmutter alarmierte Polizei nahm Kontakt mit dem in der Vergangenheit mit dem Burschen befassten Krankenhaus sowie dem Wiener Amt für Jugend und Familie auf, das die Obsorge über den zu diesem Zeitpunkt noch Minderjährigen hatte. Im Spital wurde der verhaltensauffällige junge Mann nicht aufgenommen, weil er - so die Begründung - „ruhig“ sei. Offenbar wurde daraus geschlossen, es lägen keine Anzeichen auf Fremd- oder Selbstgefährdung und somit keine Grundlage für ein Vorgehen nach dem Unterbringungsgesetz vor. Das Jugendamt wiederum vertrat - wie aus dem Gerichtsakt hervorgeht - sinngemäß den Standpunkt, man könne für den Burschen nichts tun, es gebe keinen Platz im Krisenzentrum. Die Polizei chauffierte ihn darauf in eine Notschlafstelle, wo der 17-Jährige die Nacht verbrachte. Am Morgen ging er dann zum Bahnhof und wollte nach Tulln fahren, um - wie er nun einem Schwurgericht erklärte - das Aubad zu besuchen, an das er schöne Kindheitserinnerungen habe. Fakt ist allerdings auch, dass seine ehemalige Mitschülerin, die er aus Zuneigung gestalkt haben dürfte, dort zur Schule geht.
Im Zug kam es dann zu der Auseinandersetzung mit dem Schaffner, dem der Bursche mit einem Messer mit einer zehn Zentimeter langen Klinge zunächst in die Brust stach. Der Stich drang neun Zentimeter in die Brusthöhle des 56-Jährigen ein und verfehlte knapp das Herz. Ein Lungenflügel wurde beschädigt. Ein zweiter Stich ging in den Kopf, ein dritter in den Hals. Dann kam ein beherzter Fahrgast dem Schaffner zu Hilfe, der dem Angreifer noch das Messer entwinden konnte, ehe er zu Boden ging. „Ich hatte das Gefühl, dass ich das Licht sehe und sterben werde“, gab der Mann später zu Protokoll.
Dank einer funktionierenden Rettungskette, die eine rasche intensivmedizinische Betreuung ermöglichte, blieb der 56-Jährige am Leben. „Die körperliche Beschwerden sind mittlerweile im Wesentlichen abgeklungen“, gab der Rechtsvertreter des Mittfünfzigers in der Verhandlung bekannt. Sein Mandant leide aber an einer posttraumatischen Belastungsstörung, befinde sich in psychotherapeutischer Behandlung und absolviere gerade eine Reha: „So, wie es derzeit aussieht, wird er seinen Job nie mehr ausüben können. Er war halt zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Die psychiatrische Sachverständige Gabriele Wörgötter bescheinigte dem nunmehr 18-Jährigen eine „ausgeprägte Erkrankung aus dem autistischen Formenkreis“, im Tatzeitpunkt hätte zweifelsfrei Zurechnungsunfähigkeit vorgelegen. Die Gefährlichkeitsprognose falle „äußerst ungünstig“ aus: „Ich sehe keine Möglichkeit, eine Behandlung außerhalb einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher durchzuführen.“
Zugleich räumte Wörgötter auf Befragen von Verteidiger Rudolf Mayer an, die Möglichkeit für eine bedarfsgerechete Behandlung des 18-Jährigen im Maßnahmenvollzug sei „sehr, sehr begrenzt“. Für einen Jugendlichen mit dem Asperger-Syndrom sei eine solche „kaum vorgesehen“, im gegenständlichen Fall aber zugleich „dringlich“. „Es reicht nicht aus, wenn man ihm Medikamente gibt und ihn sich überlässt“, hielt die Kinder- und Jugendpsychiaterin fest.
Im vorliegenden Fall habe sich das Unterbringungsgesetz als „zahnlos“ erwiesen, konstatierte Wörgötter im Hinblick auf das Geschehen im Vorfeld der Bluttat. Sie ortete - wörtlich - „Versagen vorrangig beim Krankenhaus“. Die im Vorfeld mit dem Kranken befassten Spitäler hätten sich weder untereinander noch mit der Ärztin des Burschen vernetzt und abgesprochen, dieser habe sogar falsche Medikamente - nämlich gegen ADHS - verschrieben bekommen. Die Krankengeschichte des Patienten sei „holprig“ dokumentiert, bemängelte die Sachverständige außerdem.
Für Verteidiger Rudolf Mayer war es „völlig unverständlich“, dass der junge Mann im Tatzeitpunkt nicht fachärztlich und engmaschig betreut wurde. Mayer zitierte aus einem Gutachten, das anlässlich des 2019 geführten Strafverfahrens eingeholt worden war - schon damals wurde mit Nachdruck vor „psychotischen Episoden“ gewarnt. „Wenn man das liest, müssen bei jedem die Alarmglocken schrillen. Dass so jemand dann einfach weggeschickt wird, wenn ihn die Polizei in ein Krankenhaus bringt, ist völlig unverständlich. Damit man keine Arbeit hat, schickt man ihn einfach weg.“ Für Mayer war in diesem Fall „ein krasses Versagen der Institutionen“ evident. Den 18-Jährigen jetzt - wie von der Staatsanwaltschaft Wien beantragt - zeitlich unbefristet in den Maßnahmenvollzug einzuweisen, sei keine Lösung: „Er gehört in eine WG, wo man sich intensiv um ihn kümmert. Nicht einfach irgendwo eingesperrt. Er ist 18. Er ist noch nicht verloren.“
Der 18-Jährige selbst wirkte vor den Geschworenen verloren. „Stimmt alles“, meinte er zu den gegen ihn gerichteten Vorwürfen. Er habe sich „psychisch nicht gut gefühlt“, als der Zugbegleiter seine Fahrkarte sehen wollte: „Ich habe sie nicht gefunden. Dann hat er sich hingesetzt. Da habe ich mein Messer gezückt.“ „Warum?“, hakte der Richter ein. „Weiß ich nicht“, erwiderte der Bursche, um nach einer kurzen Pause hinzuzufügen: „Ich hatte niemanden, der mich lieb hat.“ Auch „die Oma“ habe ihn „gehasst, weil ich die Tabletten nicht genommen habe“.