„Der Zauberberg“ als abstrakte Bühnenfantasie in St. Pölten
Das Sanatorium Berghof in den Schweizer Alpen hat man sich eigentlich etwas anders vorgestellt. Auf der Bühne des Landestheaters Niederösterreich empfängt einen ein riesiger Brustkorb, der mit seinen zu Boden reichenden Rippen aussieht wie eine Spinnenskulptur von Louise Bourgeois. Darunter eine Röhre, die unschwer als Teil einer großen Wirbelsäule zu erkennen ist. Sie dient als Laufsteg und unbequeme Liegestatt. Sara Ostertag hat einen ganz anderen „Zauberberg“ gezaubert.
Bühnenbildnerin Nanna Neudeck hat eine Mischung aus Medizinmuseum und Kunstinstallation als Schauplatz geschaffen, in dem zeitweise auch ein aus rosa Ballonstoff gefertigtes, aufgeblasenes großes Herz Platz findet. Wie Hofrat Behrens (Michael Scherff) agiert, um innere Abbilder seiner Patienten zu schaffen, erinnert mehr an Hermann Nitsch als an Professor Brinkmann: Je mehr Farbe verspritzt wird, desto klarer das Bild. Das übrige ärztliche Personal agiert nicht viel anders als die Kranken: Man hat den dringenden Verdacht, es nicht mit einer Lungen-, sondern mit eine Nervenheilanstalt zu tun zu haben. Und dann gibt es noch ein langhaariges weißes Zottelwesen, das sich immer wieder zwischen die Patienten mischt und - halb Yeti, halb Hirtenhund - im Schlaf an sie schmiegt.
Äußerlich hat man also die größten Probleme, die Geschehnisse auf der Bühne mit dem großen, 1924 erschienenen Roman von Thomas Mann in Deckung zu bringen, der zum Sinnbild einer sich aller tatkräftigen, gestaltenden Aktivitäten verweigernden Gesellschaft im Stillstand geworden ist: Hier vergehen Jahre mit Kuren, Liegen, Denken, Reden. Und ehe er sich‘s versieht, hat der Zaungast Hans Castorp, der eigentlich nur gekommen ist, um seinen Cousin Joachim zu besuchen, sieben Jahre am Zauberberg verbracht. Dass der Geist des Romans in dieser zweistündigen Bühnenfantasie dennoch spürbar ist, ist vor allem Tilman Rose zu verdanken.
Als naiver Tor krabbelt er aus der Wirbelsäulen-Röhre und registriert staunend, in welche eigenartige Welt es den lungenkranken Joachim (Jeanne Werner, gender-crossed besetzt mit keckem Bärtchen) verschlagen hat. Oberarzt Behrens (Michael Scherff führt zu Beginn in die am Zauberberg geltenden Hygieneregeln ein und wünscht dem Publikum, „dass Sie gesünder gehen als sie gekommen sind“) und Dr. Krokowski (Laura Laufenberg) tun seriös, wirken aber dennoch wenig vertrauenserweckend, die Mitpatienten (u.a. Tim Breyvogel als Madame Chauchat, Bettina Kerl als Settembrini) repräsentieren eine geheimnisvolle, den Mühen des Alltags enthobene Welt, die für den faszinierten Schiffbau-Ingenieur Castorp ebenso abstoßend wie anziehend ist. „Ich bin doch gesund!“, beteuert er - doch seine anfängliche Weigerung, sich einzugliedern in die therapeutischen Riten der Anstalt, wird immer schwächer. Am Berg herrscht die Überzeugung: Einen völlig gesunden Menschen gibt‘s nicht!
Zur Atmosphäre des Abends trägt die Musik von Clara Luzia entscheidend bei. Gemeinsam mit der Schlagzeugerin Catharina Priemer-Humpel hat sie vor dem Bühnenhintergrund Platz genommen und schaltet sich immer wieder mit melancholisch grundierten Songs ein. Das Ahnen künftiger Katastrophen, das in dem ab 1907 spielenden Roman natürlich den am Horizont heraufdämmernden Ersten Weltkrieg meint, ist darin spürbar. „Es ist ein Grollen in weiter Ferne / Ein dumpfer Schlag vom Glockenturm“, singt Clara Luzia, „Er kündigt an, was alle ahnen / auszusprechen niemand wagt // Oh nennen wir das Kind beim Namen / Es heißt Zerfall und trifft uns all‘.“
Großer Applaus für einen Abend, auf den sich nicht alle einen Reim zu machen wussten. Die nächsten Vorstellungen gibt es in Baden und demnächst auch beim Koproduktionspartner in Luxemburg.
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