Van der Bellen für Überprüfung von Gesetzen in Klimakrise

Corona-bedingt um ein Jahr verspätet wurde Freitag im Rahmen des Verfassungstages das 100-Jahr-Jubiläum von Verfassung und Verfassungsgerichtshof nachgeholt. Bundespräsident Alexander Van der Bellen dankte dem „Hüter der Verfassung“ für die zeitnahen Entscheidungen über Corona-Maßnahmen oder Abschiebungen nach Afghanistan. Angesichts der Klimakrise warf er die Frage auf, ob Gesetze und Strukturen für deren Bewältigung gerüstet sind.

Das aus 1920 stammende Bundes-Verfassungsgesetz hätte sich große Feierlichkeiten „mit Pauken und Trompeten“ wahrlich verdient, stellte Van der Bellen fest. Es habe sich über seine Geltungszeit „sehr gut bewährt“, auch in der Pandemie. Aber angesichts der Klimakrise sollte man überlegen, „ob wir für bevorstehenden Aufgaben ausreichend gerüstet sind“. In der Pandemie habe es gewisse Zeit gebraucht, bis ausreichend Strukturen für die Bewältigung geschaffen waren. Als Lehre daraus sollte man „jetzt nachdenken, ob unsere rechtlichen Grundlagen, also Verfassung und Gesetze, und unsere Organisationsstrukturen ausreichen“ zur Bewältigung der Klimakrise und ihrer Folgen.

Dass die verfassungsrechtlichen Kontrollmechanismen funktionieren, hätten die vergangenen Monate „ohne Zweifel“ gezeigt, dankte Van der Bellen den Verfassungsrichtern für zeitnahe Entscheidungen auch über Anträge des Ibiza-U-Ausschusses samt erstmaliger Exekution eines Erkenntnisses. Der VfGH habe mitunter „korrigierend eingreifen“ müssen - und sei „in all diesen Fragen seiner Rolle als Hüter der Verfassung immer zweifelsfrei und unbestritten nachgekommen“.

In Ausübung dieser Rolle setze der VfGH „implizit den Staatsgewalten verfassungsrechtliche Schranken und der Politik Grenzen“, merkte Van der Bellen im Zusammenhang mit den Afghanistan-Entscheidungen an. So habe der VfGH klar gestellt, dass das Folterverbot absolut gelte, „eine Abschiebung so lange verfassungswidrig ist, als die Rückführung im Hinblick auf die Lage im Zielland nicht vertretbar ist“ - und auch dass Asylentscheidungen sich nicht in „floskelhaften Textpassagen und zusammengesetzten Textbausteinen“ erschöpfen dürften, sondern konkret auf jeden Einzelfall eingehen müssten.

Auf die heikle Frage der Abwägung von Grundrechten - konkret Freiheit und Gesundheit - ging Van der Bellen mit Blick auf die Corona-Entscheidungen ein. Darin liege „gesellschaftliches Spaltpotenzial“, stellte er fest, durchaus etwas erstaunt über die Heftigkeit der Debatten. „Einige öffentliche Diskussionsbeiträge“ ließen den Eindruck entstehen, es gebe nur das Grundrecht Freiheit, „nicht auch dessen Einschränkung“. In der Demokratie gelte es aber immer abzuwägen, „wie viel wir von einem Grundrecht hergeben, um ein anderes zu achten“. Und: Freiheit könne auch die Entscheidung sein, „zugunsten anderer ein Recht nicht in Anspruch oder zum Schutz anderer sogar eine Belastung in Kauf zu nehmen“. Denn klar sei, so Van der Bellen, „dass wir nur gemeinsam, nur unter Mithilfe aller - also wenn möglichst alle geimpft sind - diese Pandemie in den Griff bekommen können“.

VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter mahnte „öffentliche Wertschätzung und Respekt für die Arbeit der Verwaltung und der Justiz, aber auch für alle übrigen Kontrollorgane im demokratischen Rechtsstaat“ ein. Dies sei eine wesentliche Bedingung für ein funktionierendes Staatswesen - schließe aber „sachliche Kritik an einzelnen Schwächen“ nicht aus. Beides habe in der Debatte seinen Platz.

Ausführlich widmete sich Grabenwarter dem geplanten Informationsfreiheitsgesetz. Der VfGH habe seine „Skepsis“ gegenüber dem Vorschlag eines Sondervotums „in Sorge um die richterlicher Unabhängigkeit“ bereits deponiert - und dafür „von vielen Seiten Bestätigung erfahren“. Ebenso sorgfältiger Überlegung bedürfe die Reichweite von Auskunftsansprüchen im Bereich der Rechtsprechung. „Informationsfreiheit ist kein Selbstzweck“, merkte Grabenwarter an, sondern sichere die nötige Transparenz staatlicher Institutionen.

Grabenwarter ging auch auf die Lage in Polen ein, wo es „aus demokratiepolitischer und rechtsstaatlicher Sicht keinen Grund zum Feiern“ gebe. Als Zeichen der Unterstützung der dortigen Richter in ihrem Einsatz für die Unabhängigkeit der Justiz gehe der österreichische Verfassungspreis heuer an den ehemaligen polnischen Verfassungsrichter Mirosław Wyrzykowski.

Der frühere Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, würdigte in einer Festrede ausführlich die Vorbildwirkung des 1920 eingerichteten österreichischen VfGH. Als damals weltweit erster auf Normenkontrolle spezialisierter Gerichtshof sei seine Vorbildwirkung und seine „internationale Strahlkraft kaum zu überschätzen“.

Den Respekt vor dem VfGH gestärkt hätten „viele mutige Entscheidungen“ in den letzten Jahren, erinnerte Voßkuhle an VfGH-Erkenntnisse zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, zur Bundespräsidentenwahl, zum Sozialhilfe-Grundsatzgesetz, zum Bundestrojaner, zum „dritten Geschlecht“ oder zur Suizidhilfe. Gelegentlicher Kritik am Bestellungsmodus trat er entgegen: Zwar würden die Regierungsparteien die Richter auswählen und vorschlagen. Aber: Es gebe keine Anhaltspunkte für eine an parteipolitischen Gesichtspunkten ausgerichtete Entscheidungsfindung des VfGH.

Mit den Entsolidarisierungstendenzen in der Corona-Pandemie, aber auch gegenüber geflüchteten Menschen setzte sich die Schriftstellerin Sabine Gruber in ihrer Festrede auseinander. „Ich schäme mich, in einem Land zu leben, das nicht einmal Kindern aus Moria oder gebildeten, afghanischen Frauen, die sich mühsam ein selbstbestimmtes Leben erkämpft haben und nun seit der Machtübernahme der Taliban um ihr Leben bangen müssen, Schutz bietet“, stellte sie angesichts der von der ÖVP vorgegebenen Regierungslinie fest.

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