Keine Einweisung nach Attacke auf Tochter in Psychose
Der Antrag der Staatsanwaltschaft, einen international anerkannten Molekularbiologen in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, weil er im Dezember 2020 in akuter Psychose seine Tochter attackiert haben soll, ist am Montag abgewiesen worden. Für die Geschworenen lag keine sogenannte Anlasstat vor, die erforderlich gewesen wäre, um den 40-Jährigen zwangsweise im Rahmen des Maßnahmenvollzugs nach Paragraf 21/1 Strafgesetzbuch (StGB) behandeln zu lassen.
Die Geschworenen verneinten einstimmig die Frage nach versuchtem Mord. Zum Tatzeitpunkt Zurechnungsunfähige können nur dann von einem Gericht zwangsweise eingewiesen werden, wenn die sogenannte Anlasstat mit mehr als einem Jahr Haft bedroht ist. Die Entscheidung, die auf den Wahrspruch der Geschworenen beruht, ist bereits rechtskräftig. Der Mann muss keine Auflagen mehr erfüllen. Allerdings ist eine einstweilige Verfügung des Bezirksgerichts, dass er sich seiner Familie nicht nähern darf, aufrecht. „Sie sind ab sofort auf sich gestellt“, sagte der Vorsitzende des Schwurgerichts, Stefan Apostol. Er rate dem Mann dringend, sich weiter behandeln zu lassen. Die medikamentöse Behandlung sei der „einzige Weg“, sagte er.
Der 40-Jährige fühlte sich seit geraumer Zeit von Männern mit schwarzen Sonnenbrillen verfolgt, die ihm wissenschaftliche Unterlagen stehlen wollten. Zunächst hatte er die Verfolger nur gesehen, später sprachen die Gestalten auch mit ihm. „Dafür wirst du bezahlen“, sagten sie laut seinen Aussagen zu ihm, weil er seine Forschungsdaten nicht herausrücken wollte. Ihm zufolge drohten sie, seine Tochter zu entführen. Um dem Kind Qual und Folter durch diese Männer zu ersparen, soll er dem damals 20 Monate alten Mädchen „etwas antun“ wollen, gab er später bei der Polizei zu Protokoll. Bei der heutigen Gerichtsverhandlung meinte er, er habe seine Tochter nur zum Weinen bringen wollen, damit seine Frau die Polizei alarmiere und ihm endlich geglaubt werde.
Von 2014 bis 2018 hielt sich der 40-Jährige zu Studienzwecken an der Eliteuniversität Oxford in Großbritannien auf. Seine ebenfalls in der Wissenschaft tätige Frau blieb unterdessen in Wien. Bei ihren Besuchen bemerkte sie dann plötzlich, dass sich ihr Mann veränderte. Immer wieder suchte er nach Unterlagen, die später wieder bei ihm auftauchten. Er meinte, in seiner Wohnung würden sich Fremde aufhalten, die Unterlagen mitnehmen und woanders hinlegen. Bei einem Restaurantbesuch in England steigerte er sich so dermaßen in den Verfolgungswahn hinein, dass er aus dem Lokal flüchtete und dies auch seiner Frau anriet.
Nach seiner Rückkehr in Wien, setzte sich sein Verhalten fort. Mindestens einmal in der Woche durchwühlte er stundenlang seine Dokumente, in der Annahme, es würde etwas fehlen. Im September 2020 war sein Zustand bereits so schlecht, dass ihn seine Frau zwei Mal zum psychosozialen Dienst in Wien brachte. Dort zeigte er jedoch keine Krankheitseinsicht, die verschriebenen Medikamente holte er sich nicht ab und eine Therapie nahm er nicht in Anspruch. Im Oktober entdeckte die 39-Jährige dann in der Wohnung plötzlich ein Schwert, das ihr Mann dort versteckt hatte. Auch verlangte er, dass die Frau von ihrer Arbeitsstelle Zyanid mitbringen sollte, eine Begründung nannte er nicht. Die Wissenschafterin hatte daraufhin solche Angst vor ihrem Mann, dass sie sich teilweise zum Schlafen mit dem Kind im Schlafzimmer einsperrte und ihm untersagte mit der Tochter allein zu sein. Auch im Kindergarten sagte sie Bescheid, dass der 40-Jährige die Tochter nicht alleine abholen dürfte.
Am 10. Dezember 2020 eskalierte die Situation. Der psychiatrische Gutachter Peter Hofmann sagte in seiner Ausführung, dass diese Patienten aus ihrem Stressniveau nicht mehr herauskommen würde. Das würde seine innere Unruhe erklären, der 40-Jährige und seine Frau berichteten, dass er nicht mehr geschlafen hätte und ständig herumgegangen sei. Bei einem Zoom-Meeting mit seinen Arbeitskollegen am 10. Dezember wurde die Sorge des 40-Jährigen, dass ihm seine Forschungsdaten gestohlen werden können, immer größer, sodass er diese Besprechung abbrach. Seine Frau schilderte, dass er an diesem Tag sehr nervös und unruhig wirkte und man mit ihm kaum noch sprechen konnte.
Zunächst ging das Paar gemeinsam zu Bett, doch weil der Molekularbiologe immer wieder aufstand und herumging, bat ihn seine Frau, ihm Wohnzimmer zu schlafen. Plötzlich wachte die 39-Jährige auf, weil sie ihr Kind weinen hörte. Sie sah ihren Mann beim Gitterbett. Er hatte zuvor das Kind ins Gesicht geschlagen, dann soll er laut Staatsanwältin die Hand auf Nase und Mund gelegt haben und auch den Nacken des Mädchens überstreckt haben. Die Frau entriss ihm das Kind und bat ihn zu gehen. Danach alarmierte die 39-Jährige die Polizei. Der Mann wurde in der Wohnhausanlage festgenommen, er fragte die Beamte, ob sein Kind noch die Beine bewegen könne. Denn er habe dem Mädchen den Nacken brechen wollen, weil die Verfolger immer näher kamen. Deshalb wurde die Anlasstat als versuchter Mord gewertet. Diese Aussage hielt er in der Verhandlung am Montag nicht mehr aufrecht. Der medizinische Sachverständige Christian Reiter berichtete auch, dass das Kind völlig unverletzt blieb, das Erstickungsstadium sei nicht fortgeschritten gewesen, auch die Halswirbelsäule sei einen Tag danach normal beweglich gewesen.
In der Untersuchungshaft wurde der Mann bald gegen seine paranoide Schizophrenie behandelt und erhält nun monatlich eine Depotspritze, die rasch Besserung brachte. Deshalb wurde er im März 2021 unter Auflagen aus der Haft entlassen. Der psychiatrische Gutachter Hofmann geht davon aus, dass der 40-Jährige vor vier bis fünf Jahren erste Vorläufersyndrome entwickelt hat. Die Tat sei „völlig unter Eindruck der Psychose“ geschehen, sagte der Sachverständige. Da seine Behandlung so gut angeschlagen hätte und er krankheitseinsichtig sei, könnte sich der Gutachter eine weitere Behandlung außerhalb einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher vorstellen.
„Ich dachte, die Verfolger sind real“, sagte der Betroffene, der von Sonja Scheed anwaltlich vertreten wurde. Er habe sogar bei der Polizei Hilfe gesucht, doch dort nahm man ihn nicht ernst und man riet ihm, den psychosozialen Dienst aufzusuchen. Jetzt weiß er: „Ich leide an Schizophrenie“, wie er ausführte. Und: „Ich möchte die Behandlung fortsetzen. Ich brauche sie“, meinte er.