Russischer Angriff auf Ukraine begonnen

Russland hat in der Nacht über mehrere Flanken und mit Bodentruppen einen groß angelegten Angriff gegen die Ukraine gestartet. Nach Angaben des ukrainischen Grenzschutzes rückten russische Panzer in den Osten des Landes ein. In mehreren nördlichen Regionen und von der annektierten Halbinsel Krim aus habe die Armee mit Panzern und weiterem schweren Gerät die Grenze passiert. Zuvor meldete die Ukraine bereits massiven Beschuss aus der Luft.

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte sich kurz vor Beginn der Angriffe im Fernsehen geäußert. Er habe die Militäraktion autorisiert, Russland habe keine andere Wahl als sich zu verteidigen, sagte Putin. „Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich entwickeln und leben mit einer konstanten Bedrohung, die von der modernen Ukraine ausgeht“, sagte Putin. „Jede Verantwortung für Blutvergießen liegt bei dem regierenden Regime in der Ukraine.“

Das ganze Ausmaß des russischen Angriffs war zunächst nicht zu überblicken. Putin sagte aber, Ziel sei nicht, ukrainisches Territorium zu besetzen. Es gehe darum, die Menschen zu schützen. Das ukrainische Militär solle die Waffen niederlegen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verhängte in der Folge das Kriegsrecht über alle Teile des Landes.

Der Angriff konzentrierte sich vor allem auf den Osten des Landes. Es gebe Angriffe von Gebieten und Siedlungen entlang der Staatsgrenze sowie auf mehrere Flugplätze, teilte der Generalstab Donnerstagfrüh in Kiew mit. Laut einem Berater des ukrainischen Präsidialamts gab es schwere russische Artillerie-Angriffe auf Infrastruktureinrichtungen.

Explosionen waren auch in der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer und in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine im Nordosten des Landes, zu hören. Russland habe die Infrastruktur und die Grenzen mit Raketen angegriffen, sagte Selenskyj. Er forderte die Bürger auf, nicht in Panik zu geraten. „Wir sind auf alles vorbereitet, wir werden siegen“, fügte er hinzu. Selenskyj forderte „sofortige Sanktionen“ gegen Moskau.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sprach von einem „groß angelegten Krieg gegen die Ukraine“. „Putin hat gerade eine große Invasion der Ukraine gestartet. Friedliche ukrainische Städte werden attackiert. Das ist ein Angriffskrieg“, teilte der Minister am Donnerstag bei Twitter mit. „Wir brauchen Waffen, finanzielle Unterstützung und humanitäre Hilfe.“ Die Ukraine fordert die Türkei auf, den Bosporus und die Dardanellen für russische Schiffe zu schließen.

Nach ukrainischen Angaben wurden infolge russischer Luftangriffe mindestens sieben Menschen getötet und 15 weitere verletzt. Zudem würden 19 Soldaten vermisst, teilte das Innenministerium in Kiew am Donnerstagmorgen mit. Das ukrainische Parlament stimmt der Verhängung des Kriegsrechtes zu, das Präsident Wolodymyr Selenskyj per Dekret angeordnet hat.

Das russische Verteidigungsministerium meldete am Vormittag, dass es die Luftabwehr des Landes komplett unschädlich gemacht habe. Die Stützpunkte der ukrainischen Luftwaffe seien mit „präzisionsgelenkter Munition“ außer Betrieb gesetzt worden, hieß es. Die ukrainischen Soldaten hätten keinerlei Widerstand gegen das russische Militär geleistet. Zugleich wies das Ministerium ukrainische Berichte über einen Abschuss von russischen Flugzeugen zurück. Das entspreche nicht den Tatsachen, hieß es. Das Ministerium teilte auch mit, dass es keine Luftschläge gegen ukrainische Städte gebe. „Der Zivilbevölkerung droht nichts.“

Ukrainische Militärangaben, dass über der Ukraine russische Flugzeuge abgeschossen wurden, wies Russland am Donnerstag zurück. Das meldet die russische Nachrichtenagentur RIA. Das ukrainische Militär meldete, fünf russische Flugzeuge und einen Hubschrauber in der Region Luhansk abgeschossen zu haben.

Die pro-russischen Separatisten meldeten die Einnahme von zwei Kleinstädten. Es handle sich dabei um Stanyzja Luhanska und um Schtschastja, teilten die Separatisten mit. Demnach sind Truppen über den Fluss Siwerskyj Donez vorgedrungen, der bisher die Frontlinie bildete. Die Behörden in Kiew bestätigten zugleich das Vordringen der prorussischen Kräfte auf das von ukrainischen Regierungstruppen kontrollierte Gebiet.

Die russische Armee sei zu den Orten Milowe und Horodyschtsche auf ukrainisches Gebiet vorgestoßen, teilte das Innenministerium in der Hauptstadt Kiew mit. Zudem seien Munitionslager im westukrainischen Gebiet Chmelnyzkyj und im südostukrainischen Gebiet Dnipropetrowsk mit Raketen angegriffen worden. In der westukrainischen Stadt Luzk sei ein Fernsehturm zerstört worden. Außerdem wurden den Angaben zufolge Kasernen der ukrainischen Streitkräfte im westukrainischen Gebiet Winnyzja und nahe der Hauptstadt Kiew angegriffen. Die Hintergründe waren zunächst unklar.

Russland greift der Nachrichtenagentur Interfax zufolge auch vom Wasser aus an. Es gebe Landungsoperationen der Schwarzmeerflotte im Asowschen Meer und in Odessa. Auch in Mariupol habe es schwere Explosionen gegeben.

Die Ukraine schloss ihren Luftraum komplett, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk meldete. Die Europäische Flugsicherheitsbehörde EASA warnte Fluglinien davor, über die Ukraine zu fliegen. Innerhalb von 100 Nautischen Meilen (185 Kilometern) von der belarussisch-ukrainischen und der russisch-ukrainischen Grenze sollten Piloten „extreme Vorsicht“ walten lassen.

„Die Gebete der ganzen Welt sind heute Nacht beim ukrainischen Volk, während es unter einem unprovozierten und ungerechtfertigten Angriff durch die russischen Streitkräfte leidet“, erklärte US-Präsident Joe Biden. „Präsident (Wladimir) Putin hat sich für einen vorsätzlichen Krieg entschieden, der zu einem katastrophalen Verlust an Leben und zu menschlichem Leid führen wird“, sagte Biden. Die USA und ihre Verbündeten würden Russland entschlossen dafür „zur Rechenschaft ziehen“, erklärte er. Biden erklärte weiter, er werde die Situation im Laufe der Nacht weiter im Weißen Haus beobachten und von seinem Sicherheitsteam unterrichtet werden.

In der Früh (Ortszeit/ 15.00 Uhr MEZ) wolle der US-Präsident sich wie bereits geplant mit seinen Amtskollegen aus der Gruppe der sieben wichtigsten Wirtschaftsnationen (G7) über die weitere Vorgehensweise beraten. Im Anschluss werde er sich ans amerikanische Volk wenden,

Die EU-Spitzen, Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, drohten mit weiteren Sanktionen. Die Staaten der Europäischen Union kommen am Abend in Brüssel zu einem EU-Sondergipfel zusammen, darunter auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP). Nehammer verurteilte am Donnerstag die „eklatante Verletzung des Völkerrechts“ durch Russland.

Österreich verhängte am Donnerstag eine Reisewarnung für die gesamte Ukraine. „Vor allen Reisen in die Ukraine wird aufgrund der unvorhersehbaren Sicherheitssituation eindringlich gewarnt. Es wird dringend geraten, die Ukraine unverzüglich zu verlassen“, so das Außenministerium auf seiner Homepage.

Der Nordatlantikrat tritt in Brüssel um 8.30 Uhr zu einer Krisensitzung zusammen. Aus NATO-Kreisen hieß es, dass bei der Sitzung beschlossen werden könnte, dem Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte weitreichende Befugnisse zu übertragen. Möglich wäre demnach auch, dass sofort weitere NATO-Truppen zur Verstärkung der Ostflanke in Staaten wie Estland, Lettland und Litauen verlegt werden. Diese Bündnismitglieder haben besonders große Sorge, dass Russland nicht nur die Ukraine, sondern auch sie angreifen könnte.

Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien plant eine Sondersitzung des Ständigen Rats, die am Donnerstag in Wien stattfinden wird. Dies erklärte der APA ein Vertreter der ukrainischen OSZE-Delegation.

Russland plant nach Angaben Putins nicht, ukrainisches Gebiet zu besetzen. Allerdings wolle man die Ukraine entmilitarisieren und „denazifizieren“. Russland werde nicht zulassen, dass in der Ukraine Atomwaffen auftauchten, sagte Putin. Er forderte das ukrainische Militär auf, „die Waffen niederzulegen“. Dann wandte er sich an diejenigen, „die versuchen, sich bei uns einzumischen“: „Sie müssen wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie noch nie erlebt haben.“

Der Chef der selbst ernannten Volksrepublik Donezk kündigte an, dass es keine langen Kämpfe geben werde. Denis Puschilin sagte am Donnerstagmorgen im russischen Staatsfernsehen: „Die Befreiungsbewegung wird ziemlich schnell enden.“ Die Militäroperation sei im vollen Gang. „Ich kann sagen, dass dies sehr bald enden wird.“ Die Städte und Dörfer der Region würden „in naher Zukunft befreit werden“, behauptete er.

Mit seiner Anordnung eines Einsatzes in den abtrünnigen Regionen Luhansk und Donezk entsprach Putin einer schriftlichen Bitte der Chefs der sogenannten Volksrepubliken um Beistand gegen die ukrainische „Aggression“, meldete die Agentur Interfax unter Berufung auf Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Der Kremlchef marschiert nun zum zweiten Mal nach 2014 in der Ukraine ein.

Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA sieht hingegen keinerlei Belege für die Behauptungen von Putins über ein mögliches Atomwaffenprogramm in der Ukraine. „Unsere Agentur hat keine Hinweise dafür gefunden, dass in der Ukraine deklariertes Nuklearmaterial aus der friedlichen Nutzung von Nuklearenergie abgezweigt wird“, sagte ein IAEA-Sprecher dem „Tagesspiegel“.

Seit 2014 kämpfen in den ostukrainischen Gebieten Luhansk und Donezk Regierungstruppen gegen von Moskau unterstützte Rebellen. UNO-Schätzungen zufolge wurden in dem Konflikt bereits über 14.000 Menschen getötet.