Russischer Ansturm auf Kiew: Schüsse und Kämpfe

Die russische und ukrainische Armee haben in der Nacht auf Samstag erbittert um die Kontrolle über die Hauptstadt Kiew gekämpft. Im Zentrum waren Explosionen und Gefechtslärm zu hören, die offenbar von Kämpfen am Stadtrand stammten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte die Bürger der Millionenstadt am späten Freitagabend zum entschlossenen Widerstand gegen den russischen Ansturm aufgerufen. „Das Schicksal des Landes entscheidet sich gerade jetzt“, sagte er.

Russische Truppen versuchten, das Heizkraftwerk Nr. 6 anzugreifen, teilte ein Amt für Behördenkommunikation mit. Die ukrainische Armee verteidige sich. Das Kraftwerk liegt im äußersten Nordosten der Millionenstadt auf dem rechten Ufer des Flusses Dnipro. Auch von anderen Stellen auf dem rechten Ufer gab es Berichte über Explosionen und Schüsse aus automatischen Waffen. Die Armee teilte mit, dass ein russischer Angriff auf einen Militärstützpunkt in Kiew abgewehrt werden konnte.

Das Onlinemedium „Kyiv Independent“ berichtete auf seinem Telegram-Kanal von „mehr als 50 Explosionen“ in den Stadtteilen Schuljawka und Zoopark sowie bei der Metrostation Berestejska, wo sich eine ukrainische Armeeeinheit verschanzt haben soll. Der Luftabwehr sei es indes gelungen, ein weiteres russisches Transportflugzeug mit bis zu 100 Fallschirmjägern südlich von Kiew abzuschießen. Beim Luftwaffenstützpunkt Wassylkiw rund 40 Kilometer südlich von Kiew gab es heftige Kämpfe. Die ukrainische Armee berichtete, eine Iljuschin II-76 mit russischen Fallschirmjägern abgeschossen zu haben.

„Der Feind wird alles seine Kräfte einsetzen, um unseren Widerstand zu brechen“, sagte Selenskyj. „In dieser Nacht setzen sie zum Sturm auf Kiew an.“ Er rief alle Ukrainer auf, „den Feind wo auch immer möglich aufzuhalten“. Die Bevölkerung sollte alle Sonderzeichen entfernen, die Saboteure an Straßen und Häusern anbringen. „Verbrennt die feindliche Militärtechnik mit allem, was zur Verfügung steht!“ Sollten die Angreifer auch Kindergärten ins Visier nehmen, sollten sie daran gehindert werden, so Selenskyj weiter. „Alle Gebete sind mit unsere Soldaten. Wir glauben an sie. Sorgt für sie!“

Selenskyj hatte sich zuvor in einem kurzen Videoclip mit Regierungschef Denys Schmyhal und weiteren ranghohen Politikern auf einer Straße in der ukrainischen Hauptstadt gezeigt. „Wir sind alle hier“, sagte er. Dazu schrieb er: „Wir sind in Kiew. Wir verteidigen die Ukraine.“ Damit reagierte Selenskyj, der wie die anderen Spitzenpolitiker ein Uniformhemd trug, auf Gerüchte, er verstecke sich in einem Bunker oder habe die Stadt verlassen. Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko hatte am Abend von mehreren Detonationen im Norden der Hauptstadt berichtet. „Die Lage ist jetzt - ohne Übertreibung - bedrohlich für Kiew. Die Nacht, kurz vor Tagesanbruch, wird sehr schwierig“, sagte Klitschko.

Schon untertags hatte es geheißen, die russische Armee sei bei ihrem Angriffskrieg auf die Ukraine bis in die Hauptstadt Kiew vorgedrungen. Das ukrainische Verteidigungsministerium meldete am Freitag russische „Saboteure“ im nördlichen Stadtbezirk Obolon. Außenminister Dmytro Kuleba berichtete zudem von „schrecklichen russischen Raketenangriffen“ auf die Millionenstadt. Die russischen Truppen hatten zuvor auch den strategisch wichtigen Flugplatz Hostomel nordwestlich der Hauptstadt eingenommen und dort eigenen Angaben zufolge 200 Ukrainer „neutralisiert“.

Die militärische Lage zeigte sich auch in anderen Teilen des Landes bedrohlich für die Ukraine. Russische Kräfte drangen nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums in die ukrainische Kleinstadt Melitopol ein. Das meldet die russische Staatsagentur Ria Nowosti in Berufung auf eine Mitteilung des russischen Verteidigungsministeriums. Demnach sind russische Einheiten erst in Asow am Asowschen Meer gelandet, hätten sich in Marsch gesetzt und schließlich „ohne Widerstand“ Melitopol besetzt.

Von ukrainischer Seite hieß es, die Stadt sei umzingelt und kleine Gruppen russischer Soldaten in die Stadt eingedrungen. Diese versuchten nun, die kritische Infrastruktur zu besetzen, sagte der Leiter der Regionalverwaltung von Saporischschja, Oleksandr Staruch, in einer Videobotschaft. Das meldete die staatliche Nachrichtenagentur Ukrinform. Nach Angaben des Pentagons bereitete Russland auch einen Angriff auf die strategisch wichtige Stadt Mariupol vor, indem Soldaten und Gerät mit amphibischen Schiffen in der Nähe an Land gebracht werden sollte.

So beschossen russische Soldaten nach ukrainischen Angaben die Region um die Hafenstadt Odessa an der Schwarzmeer-Küste mit Raketen. Es seien am Freitag mehrere Raketen vom Meer aus auf Grenzschutzanlagen abgefeuert worden, teilte der Grenzschutz von Odessa mit. Betroffen sei auch Infrastruktur in der Region Mykolajiw. Mehrere Beobachtungsposten seien beschädigt worden. Befürchtet wird, dass russische Truppen nach Odessa vorrücken könnten - eine strategisch wichtige Stadt.

Zuvor hatten russische Truppen nach ukrainischen Angaben den Fluss Dnipro in der Südukraine überschritten. Damit hätten sie nun Zugang zur strategisch wichtigen Stadt Cherson, die wiederum eine wichtige Rolle beim Schutz von Odessa spielt.

Die genaue militärische Lage blieb undurchsichtig. Russland setzte eigenen Angaben zufolge 211 ukrainische Militärobjekte „außer Gefecht“. Auch sechs Kampfflugzeuge, ein Hubschrauber und fünf Drohnen seien abgeschossen worden. Auch 67 Panzer wurden zerstört. Nach ukrainischen Angaben erlitten die russischen Truppen schwere Verluste. Präsident Selenskyj sagte, in der ukrainischen Armee seien am ersten Tag der Invasion 137 Soldaten getötet und 316 Soldaten verletzt worden. Das Verteidigungsministerium sprach von 30 zerstörten russischen Panzern, 130 Panzerfahrzeugen, 7 Flugzeugen und 6 Hubschraubern. Etwa 1.000 russische Soldaten seien getötet worden.