Scharfe Kritik an AKW-Beschuss - Nehammer will Schutzzone

Der russische Beschuss des ostukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja ist am Freitag scharf verurteilt worden. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach am Freitag von „Rücksichtslosigkeit“. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte, dass nur eine Flugverbotszone Russland davon abhalten werde, Atomanlagen zu bombardieren. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) forderte Russland auf, Schutzzonen um AKW zu achten.

Nehammer appellierte an Russland, „maßgeblich darauf zu achten, dass es zu keinen Kampfhandlungen in der Nähe von Atomkraftwerken kommt“. Die russische Armee und Präsident Wladimir Putin würden im wahrsten Sinn „mit dem Feuer spielen“, sagte Nehammer am Freitag nach einem gemeinsamen Lagebriefing mit Ministerin Leonore Gewessler (Grüne) in der Strahlenschutzabteilung des Klimaschutzministeriums in Wien. „Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben“, sagte der Kanzler. Gewessler nannte den Beschuss einen „inakzeptablen Akt“, betonte aber auch, dass für „Österreich keine Gefahr besteht“.: „Trotzdem zeigen uns die Ereignisse auch - die Atomkraft ist eine gefährliche Technologie“.

Zuvor hatte bereits das Außenministerium den russischen Beschuss „aufs Schärfste“ verurteilt. „Dieser Angriff ist eine Bedrohung der Sicherheit von jedem einzelnen Europäer“, hieß es am Freitag in einem englischsprachigen Tweet. „Russland muss seine waghalsigen Taten sofort beenden.“ Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sagte, die Berichte vom Beschuss des AKW Saporischschja würden „zutiefst schockieren und besorgen“. Experten würden keine Gefahr für Österreich sehen, doch müssten diese Einschätzungen auch neu bewertet werden. „Wenn das ein gezielter Anschlag war, ist das ein weiterer Eskalationsgrad, der uns alle gefährdet“, betonte Edtstadler.

IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi sagte in Wien, dass er persönlich nach Saporischschja reisen wolle, um das AKW zu inspizieren. „Ich bin bereit zu kommen“, sagte Grossi bei einer eilig einberufenen Pressekonferenz in Wien. Die IAEA hatte zuvor mitgeteilt, Berichte über den Beschuss in der Nähe des AKW erhalten zu haben und mit diesbezüglich mit den ukrainischen Behörden in Kontakt zu sein. Die UNO-Behörde hatte sich schon in der Vorwoche besorgt über Kämpfe in der Nähe des AKW Tschernobyl gezeigt. Grossi schlug Tschernobyl als Ort für Verhandlungen über Sicherheitsgarantien für Atomkraftwerke zwischen Russland und der Ukraine vor. „Für uns als IAEA ist es Zeit zu handeln, wir müssen etwas tun“, sagte der Argentinier.

Der deutsche Oppositionsführer Friedrich Merz brachte indes einen gezielten NATO-Eingriff in den Ukraine-Krieg ins Spiel, wenn es gezielte russische Angriffe auf Atomkraftwerke geben solle. „Es kann eine Situation geben, in der dann auch die NATO Entscheidungen treffen muss, Putin zu stoppen“, sagte der CDU-Chef am Freitag dem Radiosender NDR Info. So weit sei es aber nicht, betonte er. Wenn allerdings Atomkraftwerke angegriffen würden, „wenn möglicherweise sogar die Reaktorblöcke getroffen werden sollten, dann sind wir unmittelbar bedroht von den Auswirkungen dieses Krieges“.

Empört zeigte sich der litauische Präsident Gitanas Nauseda. „Russlands Angriffe auf zivile Nuklearanlagen in der Ukraine sind ein Akt des Nuklearterrorismus und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, twitterte Nauseda am Freitag. „Ich fordere eine sofortige internationale Reaktion auf Russlands Nuklearverbrechen“. Als „höchst unverantwortliche Tat, die bei einem Austritt von Radioaktivität Millionen Menschen bedrohen würde“, verurteilte das tschechische Außenministerium das Vorgehen Russlands. Die sonst zurückhaltende Leiterin der tschechischen Strahlenschutzbehörde, die Atomphysikerin Dana Drabova, merkte auf Twitter an: „Sie sind verrückt geworden!“

Das ukrainische Außenministerium betonte am Freitag, dass Russland das AKW absichtlich angegriffen habe. Präsident Selenskyj empörte sich in einer Videobotschaft, dass kein anderes Land das jemals getan habe. „Der Terroristen-Staat verlegt sich jetzt auf Nuklear-Terror“, kritisierte er. Selenskyj rief die russischen Bürger zu Protesten auf. „Ihr müsst auf die Straßen gehen und sagen, dass ihr leben wollt, dass ihr in einer Welt ohne radioaktive Verseuchung leben wollt“, sagte er am Freitag in einer TV-Ansprache. „Die radioaktive Strahlung weiß nicht, wo Russland liegt, die Strahlung weiß nicht, wo die Grenzen eures Landes sind.“

Der Völkerrechtler Michael Lysander Fremuth betonte, dass ein Angriff auf Atomkraftwerke wegen der damit verbundenen erheblichen Gefahren „strikt verboten“ sei. Dies gelte selbst dann, „wenn es sich um ein militärisches Ziel handeln sollte“, verwies Lysander Fremuth in einer Expertise auf das erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen.

Die Umweltorganisation Greenpeace wertete den Vorfall als Beweis für die Risiken der Atomkraft in Friedens- und Kriegszeiten. „Putins Invasion setzt die Gesundheit der Menschen in Europa aufs Spiel. Ein Atomkraftwerk zu beschießen ist unverantwortlicher Wahnsinn“, betonte Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital am Freitag.

Nach dem Vorrücken russischer Truppen zu dem Atomkraftwerk war ein Feuer in einem Gebäude der Anlage ausgebrochen. In der Früh wurde es nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums gelöscht. Gebrannt habe ein Trainingskomplex. Es sei keine erhöhte Radioaktivität gemessen worden, teilte die ukrainische Aufsichtsbehörde mit. Russische Truppen hätten das Kraftwerk besetzt. Russland äußerte sich zunächst nicht zu dem Vorfall.