Ai Weiwei in der Albertina modern: Kunst der Metamorphose
Einer der weltweit prominentesten Künstler und Menschenrechtsaktivisten ist zu Gast in der Albertina modern. Die Ausstellung „In Search of Humanity“, die am Abend via Social Media eröffnet wird und dann bis 4. September zu sehen ist, sei zwar nicht von der Fläche, aber von Breite und Umfang her seine bisher größte Personale, sagte Ai Weiwei heute vor der Presse. „Ihre Bandbreite reicht geradezu vom ersten bis zum bisher letzten Kunstwerk“, schmunzelte er. 144 Objekte sind es.
Auch in den Materialien ist das Spektrum weit, von gefundenen Objekten, die zu Installationen verarbeitet werden, bis zu großflächigen Wandbildern, die er aus bunten Legosteinen zusammensetzt und dabei FBI-Untersuchungsakten ebenso nachbildet wie ein opulentes Rubens-Gemälde. Dort schmuggelt er dann freilich einen Pandabären anstelle eines Putto ins Bild. Ai Weiweis Kunst sei nicht nur durch und durch politisch, sondern immer wieder auch witzig, sagte Elsy Lahner, die zusammen mit Dieter Buchhart die Ausstellung kuratierte.
Immer wieder stößt man auf scheinbar alltägliche Objekte, die aus anderen Materialien nachgebildet sind. Aus Holz, aus Stein, aus Porzellan, besonders gerne aus Marmor - Rettungsringe etwa, ein Sitzmöbel, das sich millionenfach in chinesischen Haushalten findet, ein Spielzeugauto, eine Überwachungskamera. „50 Tonnen wurden für diese Ausstellung bewegt“, hob Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder hervor und wies darauf hin, dass sogar der an sich unspektakulär wirkende Kegel aus Porzellansonnenblumenkernen 1,5 Tonnen wiegt. „Metamorphose ist ein zentrales Gestaltungsprinzip seiner Kunst und spielt eine große Rolle in dieser Ausstellung“, so Schröder, der die Schau „ein Lieblingsprojekt von mir“ nannte.
Ai Weiwei zeigte sich geehrt, von einer so renommierten Institution wie der Albertina so umfassend gewürdigt zu werden. Die Ausstellung finde nun in einer Zeit größter Unsicherheit statt, in der das friedliche Leben, das der Westen seit Ende des Zweiten Weltkriegs gewohnt war, zu einem Ende gekommen sei. „Das ist ein guter Moment, sich bewusst zu machen, dass man der Realität ins Auge blicken muss.“ Der Ausstellungstitel „In Search of Humanity“ wandle sich derzeit von der Suche in ein Verteidigen der Menschlichkeit. Es gehe um Menschenrechte, um Meinungsfreiheit, um Demokratie.
Beim Rundgang durch die Ausstellung stellt man fest: Praktisch jedes seiner Werke drückt diese Haltung aus. Und die persönliche Biografie des 1957 in Peking geborenen und heute in Portugal lebenden Künstlers, dessen Vater, der Dichter Ai Qing, in Maos Kulturrevolution als Rechtsabweichler mit seiner Familie unter erbärmlichen Bedingungen im Lager leben musste, spiegelt wesentliche Brüche und politische Erfahrungen wider. Bei seinem Studium in New York wurde er mit Minimal und Pop Art konfrontiert, bei seiner Rückkehr nach China, wo er sich um seinen kranken Vater kümmerte, begann er sich immer stärker an dem autoritären Staat zu reiben, der wenige Jahre zuvor die Studentenproteste am Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen hatte.
Ein Saal wirkt zunächst mit verschieden zusammengeschweißten Rädern wie eine Fahrradausstellung, da realisiert man, dass ein scheinbar zerlegtes oder verunfalltes Rad an das Niederwalzen der Proteste gemahnt. An den Wänden hängen Fotos seiner berühmten Stinkefinger-Serie, den ausgestreckten Mittelfinger gibt es auch als Bronzeabgüsse oder als vielfach variiertes und arrangiertes Muster an den Saalwänden. „Fuck“ steht in großer Leuchtschrift darüber. Ai Weiwei, der wie ein sanfter Koloss wirkt, neigt in seinen Werken zu deutlicher Sprache. Und er bezieht alles mit ein.
Man begegnet in der Ausstellung seiner vielfachen Auseinandersetzung mit der skrupellosen Zerstörung von Kulturerbe (berühmt wurde Ai Weiwei etwa durch das fotografisch dokumentierte Fallenlassen einer antiken Vase) oder der Korruption und Informationsunterdrückung eines repressiven staatlichen Machtapparates. Seine Recherchen nach dem Erdbeben, das 2008 in Sichuan über 90.000 Opfer forderte, brachten schwere Missstände zutage. Auf einer Wand sind die Personaldaten von 5.197 Kindern dokumentiert, die in schlecht gebauten Schulen umkamen und deren Namen erst durch zivile Aktivisten zusammengetragen wurden. Gegenüber ist eine große Installation aus verbogenen Armierungseisen zu sehen: Überreste einer in sich zusammengestürzten Schule und Dokument menschlichen Versagens.
Derlei Bürgeraktivismus brachte Ai Weiwei bald in Konflikt mit den Behörden. Seine erste Verhaftung hält er mit einem Selfie fest und kann es in den Sozialen Netzwerken posten. In der Ausstellung ist das damals weltweit geteilte Dokument des Unrechts als riesiges Legobild zu sehen. Doch es ist nur der Auftakt für einen großen Wendepunkt seines Lebens. Eine 81-tägige Haft, während der er weder Grund noch Dauer erfährt, wird er später in allen Facetten aufarbeiten. In der Albertina modern sieht man u.a. einen Nachbau seiner Zelle, in der alle Gegenstände mit Schaumstoff überzogen waren, sechs Diorama-Boxen, in denen die Ai-Weiwei-Figur bei jeder Lebensäußerung vom Schlaf bis zum Klogang von zwei Beamten überwacht wird, bis zu einem rockigen Musikvideo, das Rückschau auf diese Zeit hält. „Er spricht nicht über seine Haft, er macht sie mit seiner Kunst erlebbar“, so Lahner. Über den Plafond zieht sich eine Schlange zusammengepresster Schultaschen chinesischer Kinder.
„Diese Ausstellung haben sie so noch nie sehen können“, betonte Buchhart. Tatsächlich beeindruckte etwa die spektakuläre Schau im Berliner Martin-Gropius-Bau 2014 auf 3.000 Quadratmetern u.a. mit einer 6.000 antike Hocker einbeziehenden Installation im Hof, doch bemüht sich die Albertina-Ausstellung um Vollständigkeit. Deswegen ist hier das Laufband, das ihm Julian Assange 2016 nach einem Besuch in der ecuadorianischen Botschaft in London schenkte, ebenso zu sehen wie eine große Installation zu den chinesischen Tierkreiszeichen, Möbelskulpturen ebenso wie seine Auseinandersetzung mit der Flüchtlingskrise. Schwimmwesten, ein zerschossenes Tor aus Syrien, eine Handyaufladestation aus einem aufgelassenen Flüchtlingslager - ihre Metamorphose besteht einzig im neuen Zusammenhang. Und sie wirken um nichts weniger eindrücklich als ihre Pendants, kunsthandwerklich umgearbeitete Artefakte.
Mit den Filmen „Coronation“ über die Abriegelung Wuhans angesichts der Coronapandemie, und „Human Flow“, für den Ai und sein Team in 40 Flüchtlingslagern über 600 Interviews führten, gelangt man Richtung Heute. Doch die Gegenwart ist seit wenigen Tagen wieder eine andere. Darauf bezogen sich auch die meisten Fragen bei der Pressekonferenz. Die russische Invasion sei, wie jede Form des Krieges, „völlig inakzeptabel“, sagte Ai Weiwei. Wie sich China dazu verhalten werde, müsse in den nächsten Wochen und Monaten genau beobachtet werden. „Denn die Haltung, die sie dazu einnehmen werden, wird in jedem Fall von globaler Bedeutung sein. Ich glaube, China und Russland trauen einander nicht so recht, aber aus strategische Gründen brauchen sie einander.“ Leider könne jederzeit etwas Unvorhergesehenes und noch Schlimmeres passieren. „Seit es Nuklearwaffen gibt, kann unsere menschliche Rasse jederzeit verschwinden. Es braucht dazu nur einen einzigen Verrückten...“
Als Begleitprogramm zur Ausstellung zeigt das Wiener Stadtkino jeweils montags sieben Filme von und mit Ai Weiwei. Zudem ist der Künstler Gastchefredakteur der am 27. März erscheinenden Jubiläumsausgabe der „Presse am Sonntag“. Ihr Leitmotiv ist das Thema „Freiheit“.
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