Der Krimi um Grégory: Grausamer Mordfall lässt Franzosen nicht los
Dieser Fall hat alle Zutaten für einen Film: Ein grausamer Mord, ein abgeschiedenes Dorf und der Ruf nach Rache. Der Mord an einem kleinen Jungen in Ostfrankreich ist noch Jahrzehnte später unaufgeklärt. Doch die Mühlen der Justiz mahlen stetig weiter.
Von Julia Naue, dpa
Paris – Er lag tot in der Vologne. Gefesselt an Händen und Füßen trieb die Leiche des kleinen Grégory in dem Fluss in den Vogesen. Die Mütze über das Gesicht gezogen. Nur vier Jahre ist er alt geworden. Gut 35 Jahre ist das jetzt her – doch bis heute, weiß niemand, wer den kleinen Jungen ermordet hat. Die „Affaire Grégory“ ist einer der größten Justizskandale Frankreichs, einer der mysteriösesten Mordfälle in der Geschichte des Landes. Er beschäftigt bis heute die Gerichte, hat noch weitere Menschen das Leben gekostet. Und: Er ist auch ein Beispiel für Sexismus und Sensationsgier.
Der Streamingdienst Netflix hat ihn mit der Doku-Serie „Wer hat den kleinen Grégory getötet?“ jüngst wieder auf den Bildschirm gebracht – und damit auch alte Wunden aufgerissen. Aber von vorn: Es ist der 16. Oktober 1984. Der kleine Grégory Villemin spielt vor seinem Elternhaus. Nur kurze Zeit später findet die Polizei seine Leiche in der Vologne, in der Nähe des Elternhauses. Die Familie Villemin war zuvor über Jahre bedroht worden. Jetzt meldet sich der oder die Unbekannte wieder – per Brief. Der Mord sei ein Racheakt gewesen.
"Wer ist zu so einer grausamen Tat fähig?"
Das Ehepaar Villemin, Christine und Jean-Marie, ist Teil einer Großfamilie – ländliche Arbeiterklasse. Jean-Marie ist Vorarbeiter in einer Fabrik, einigen neiden ihm den Erfolg. Christine, so heißt es von Verwandten, sei arrogant. Es ist die Ära des Sozialisten François Mitterrand, in der Luft lag was von Aufbruch. Der Fall lockt schnell Journalisten von überall nach Lépanges-sur-Vologne, eine kleine Gemeinde ganz im Osten Frankreichs, etwa 100 Kilometer von Freiburg im Breisgau entfernt.
Die Journalisten aus der Ferne, nun in der Provinz – sie zeichnen das Bild eines verschwiegenen Familienclans. Und sie werden selbst zu Hobby-Ermittlern. „In den Cafés fragten sie uns: „Warum sind so viele Journalisten gekommen? Überall in Frankreich werden Kinder getötet!““, erzählt ein Reporter in der Netflix-Doku. Seine Antwort: Dieser Fall hat die magische Formel. Er ist auf allen Titelseiten.
Alle fragen sich: Wer ist zu so einer grausamen Tat fähig? Das ganze Dorf muss Schriftproben abgegeben. Zu der Beerdigung des kleinen Grégory kommen Hunderte, die Kameras sind auf die schluchzende Mutter gerichtet. Sie bricht zusammen, vor den Reportern.
Mutter wird zur Hassfigur
Bald darauf kommt die erste wichtige Wendung im Fall: Die damals 15-jährige Murielle Bolle beschuldigt ihren Schwager, Bernard Laroche, den Vierjährigen ermordet zu haben. Laroche ist der Cousin von Grégorys Vater. Er kommt für kurze Zeit ins Gefängnis, als er wieder freikommt, macht Jean-Marie Villemin kurzen Prozess: Er erschießt Laroche. Dafür muss Grégorys Vater einige Jahre in Haft, die Strafe ist jedoch angesichts der Umstände extrem milde. Seine Frau Christine steht zu ihm.
Die Journalisten teilen sich bald in Lager auf. Die einen halten Laroche für schuldig, suchen das Vertrauen der Villemins. Die anderen haben schnell eine andere Verdächtige ausgemacht: Grégorys Mutter Christine. Sie wird für viele bald zur Hassfigur und von der Presse geradezu gejagt.
Und auch bei der Polizei gibt es mehr als fragwürdige Meinungen über Christine. „Sie trägt schwarz, einverstanden. Aber sie hat, sagen wir mal, ein gefälliges Outfit an. Sie trägt einen extrem engen Pullover. Unter anderen Umständen würde man ihr fast den Hof machen“, erzählt ein damals zuständiger Ermittler in der aktuellen Doku. Er habe erwartet, jemanden zu treffen, der trauere, sich etwas vernachlässige – nicht jemanden, der sich schick gemacht habe.
Verwandte im Visier der Justiz
Sogar die Villemins, die heute mit ihren drei Kindern zurückgezogen leben, reagieren auf diese Worte. „Sie waren schockiert über diese Äußerungen, die so viele Jahre später gemacht wurden“, sagte die Anwältin des Paares der Zeitung Le Parisien. „Als ob die Gerechtigkeit von der Art, sich zu kleiden, abhängen würde.“ Gegen Christine wird ermittelt, erst Jahre später bestätigt ein Gericht: Für eine Anklage reicht es nicht, es gibt keine Beweise für die Schuld der Mutter. Auch andere Verwandte geraten immer wieder ins Visier der Justiz.
Geprägt ist die Grégory-Affäre vor allem von Schlampigkeit bei den Ermittlungen und wohl auch schierer Überforderung der Justiz. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt der Untersuchungsrichter. Jean-Michel Lambert ist damals gerade mal Anfang 30. Und er, so wirkt es zumindest, genießt das Rampenlicht. So viel Scheinwerferlicht für einen jungen Richter aus der Provinz. Doch er macht Fehler, wird von dem Fall abgezogen. Er schreibt ein Buch über sich: „Der kleine Richter“ heißt es. Diesen Titel wird er nicht mehr los.
„Ich verkünde ein letztes Mal, dass Bernard Laroche unschuldig ist“, steht 33 Jahre später in seinem Abschiedsbrief. „Um nicht das Gesicht zu verlieren, suchen wir einen Sündenbock... Ich weigere mich, diese Rolle zu spielen.“ Lambert hat sich im Sommer 2017 das Leben genommen, ein weiteres Todesopfer in der „Affaire Grégory“, die ihn bis zum Tod begleitet hat. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens stand damals bevor. „Die Ehre meines Mannes wird seit 35 Jahren besudelt“, schimpft seine Frau, Nicole Lambert, nach Veröffentlichung der Netflix-Doku im Gespräch mit Le Parisien. Sie sieht ihren Mann und einige Tatsachen darin falsch dargestellt.
Und nun? Nun ist es immer noch nicht vorbei. An diesem Donnerstag entscheidet ein Gericht darüber, ob die Aussagen der damals minderjährigen Murielle Bolle rechtmäßig waren. Bolle hatte damals in Polizeigewahrsam ausgesagt, ihre Aussage aber schnell wieder zurückgezogen und behauptet, sie sei von den Ermittlern bedroht worden. Wenn Bolles Aussage tatsächlich aus den Akten gestrichen werden muss, könnte das die gesamte Ermittlung erneut völlig auf den Kopf stellen.