Verteidigung der Demokratie zur Rettung Europas
Im Ringen um die Selbstbestimmung in Katalonien geht es auch um europäische Werte, schreibt der inhaftierte katalanische Politiker Oriol Junqueras.
Von Oriol Junqueras
Der politische Konflikt zwischen Katalonien und Spanien ist ein zutiefst europäischer Konflikt. Heute sind der Ruf nach Demokratie und die Einhaltung von bürgerlichen und politischen Rechten der Katalanen eine innere Angelegenheit. Und zwar eine innereuropäische. Katalonien ruft nach Demokratie, es fordert Gerechtigkeit. Ein wichtiger Moment für Europa.
Mit dem offenen Rechtsstreit über die Immunität der katalanischen Europaabgeordneten und Unabhängigkeitsbefürworter ist die spanische Strategie der Politikverweigerung vorige Woche im Herzen Europas angekommen. Meine parlamentarische Immunität als gewählter Europaabgeordneter ist zwar durch das spanische Wahlkomitee und den spanischen Obersten Gerichtshof verhindert worden, wenngleich mit in unseren Augen nach juristischen Standards nicht ganz nachzuvollziehenden Maßnahmen; aber wir haben es geschafft, dass Präsident Carles Puigdemont und Minister Toni Comín ihre Mandate antreten konnten. Es war eine große Freude, die Kollegen auf ihren Plätzen sitzen zu sehen. Ich bin davon überzeugt, dass ich in naher Zukunft meinen Sitz als MdEP auch antreten können werde, wie ich es übrigens schon 2009 getan habe, und dass wir uns bald im Europäischen Parlament begrüßen können werden.
Immunität durch Wahl
Den Anspruch, dass es sich bei dem katalanischen um einen europäischen Konflikt handelt, haben wir in der Vergangenheit schon betont und heute ist es mehr als offensichtlich. Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union hat die Aufmerksamkeit auf die spanische Justiz gelenkt und klar festgestellt, dass ich ab Wahl Mitglied des Europaparlaments bin, genauso wie Puigdemont und Comín. Das Amt legitimiert sich durch die Stimme der Bürger und nicht aufgrund bestimmter Formalitäten, die Spanien mich nicht ausführen ließ. Als Mitglied des Europäischen Parlaments genieße ich wie alle seine Mitglieder die parlamentarische Immunität, und ohne vorherigen Antrag auf Aufhebung derselben wäre es zu keinem Urteil gegen mich gekommen.
Das Urteil des EuGH hält zwei Tatsachen fest: Ich bin trotz der Einschränkung durch Spanien Mitglied des Europaparlaments, und meine Rechte auf Mandatsausübung wurden verletzt, weil ich eben ohne vorausgehenden Antrag auf Aufhebung meiner Immunität verurteilt wurde.
Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Demokratie auf der ganzen Welt einen schwierigen Stand hat. Mechanismen des „lawfare“ ermöglichen zweifelhaften Interessen immer öfter, demokratische Standards und deren Grundwerte anzugreifen, Präsidenten und öffentliche Posten ein- und abzusetzen und Mehrheiten zu beeinflussen. Diese Tendenz ist seit einigen Jahren leider auch in Spanien zu beobachten, insbesondere seitdem die katalanische Unabhängigkeit zu einer mehrheitsfähigen Bewegung in unserem Land geworden ist. Es ist jedoch ein globales Problem, das sich auch auf die Grundwerte der Europäischen Union auswirkt.
Europa kann nicht wegschauen, wenn einer der Mitgliedstaaten beschließt, gegen ein europäisches Gerichtsurteil zu verstoßen und sich der Souveränität der Union offen zu widersetzen. Spanien fordert Europa heraus, da es weiß, dass die Europäische Union nicht genügend Mechanismen hat, um sich durchzusetzen. Sie haben nichts dagegen, ihren internationalen Ruf oder ihre Legitimität zu verlieren, wenn sie nur die politischen Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung in die Enge treiben können.
Mit europäischer Hilfe gegen die spanische Justiz
Barcelona – Oriol Junqueras ist ein Anführer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Zur Zeit des umstrittenen Unabhängigkeitsreferendums war er Vizepräsident der katalanischen Regionalregierung. Die spanische Justiz hat ihn deswegen angeklagt und im Oktober 2019 wegen Aufruhrs und Veruntreuung öffentlicher Mittel zu 13 Jahren Haft verurteilt. Viele Katalanen sehen in ihm und acht weiteren verurteilten Regionalpolitikern politische Gefangene.
Während das Gerichtsverfahren noch im Gange war, wurde Junqueras im Mai 2019 ins Europaparlament gewählt. Die spanische Justiz ließ ihn aber nicht die notwendigen Formalitäten erfüllen, um das Mandat anzutreten. Im Dezember 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass Junqueras bereits seit der Wahl über parlamentarische Immunität verfügt. Die spanische Justiz hätte ihn deshalb auf freien Fuß setzen und zuerst die Aufhebung der Immunität erwirken müssen, bevor sie weiter gegen ihn vorgeht, so der EuGH. Das Oberste Gericht in Spanien widersetzte sich diesem Urteil aus Luxemburg und verfügte, dass Junqueras in Haft bleibt.
Zwei weitere Mitglieder der von Madrid abgesetzten Regionalregierung – der vormalige Regionalpräsident Carles Puigdemont und der vormalige Gesundheitsminister Toni Comín – entzogen sich der spanischen Justiz durch Flucht ins Exil. Auch sie wurden im Mai 2019 ins Europaparlament gewählt und konnten ihre Mandate nach dem Spruch des EuGH antreten. In ihrem Fall hat Spanien formal die Aufhebung der Immunität beantragt. Eine Entscheidung dürfte erst in einigen Monaten fallen.
Junqueras, geboren 1969 in Barcelona, hat vor seiner politischen Laufbahn als Universitätsdozent für Geschichte und Publizist gearbeitet. Er saß bereits ab 2009 einmal im EU-Parlament. Seine politische Heimat ist die linksgerichtete Partei Esquerra Republicana de Catalunya. (TT)
Recht statt Rache
Ich bin davon überzeugt, dass wir den Kampf gegen Spanien juristisch letztendlich gewinnen werden, da die Liste der erfahrenen Rechtsverletzungen sehr lang ist. Aber es wird noch lange dauern und die Staatsmacht wird bereits ihren Zweck erreicht haben, nämlich uns vom politischen Leben auszuschließen und Rache an denjenigen zu üben, die sie als ihre Feinde betrachtet. Wir sind die größten Befürworter von Demokratie, Freiheit und Europa, und aus diesem Grund sind wir davon überzeugt, dass wir von den europäischen Institutionen unser Recht bekommen werden. Aus diesem Grund rufen wir die europäischen Demokraten auf, dazu beizutragen, dass der von uns eingeleitete Dialog zwischen Katalonien und Spanien genutzt wird, und ein Ende der Repression zu fordern, die uns in die dunkelsten Momente der europäischen Demokratie versetzt. Wir bitten Sie, einem Antrag auf Aufhebung meiner Immunität als Europaparlamentarier nicht stattzugeben, da dieser nicht Gerechtigkeit, sondern Rache sucht. Es liegt in Ihren Händen, dies zu verhindern.
Unfreiheit ist keine Lösung. Nur Dialog, Politik und Demokratie werden es sein. Deshalb setzen wir uns für das Ende der Repression ein und fordern eine Amnestie für die gesamte Causa der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Wir treten dafür ein, einen Verhandlungstisch zwischen Katalonien und dem spanischen Staat einzurichten und schließlich in einem Referendum über die Unabhängigkeit abzustimmen, wie es in anderen Demokratien, zum Beispiel im Fall der Schotten, möglich war.
Der katalanische Konflikt ist nicht mehr nur das legitime Bestreben eines sehr wichtigen Teils des katalanischen Volkes, sondern zu einem Problem der Verletzung von Menschenrechten und einem demokratischen Konflikt in der Mitte Europas geworden.
Wir erhalten Unterstützung aus allen Teilen Europas, aber Europa muss eingreifen, um die Demokratie zu verteidigen. Die EU muss einen Schritt tun, um eine demokratische Handhabung zu finden, die das Ende der Repression und das Recht auf Selbstbestimmung ermöglicht.
Europas Feinde
Dieser Prozess ist eine Gelegenheit für Europa, sich auf die Seite der Demokratie zu stellen und jene Kräfte zu bekämpfen, die sie unterwandern wollen. Europäische Demokraten müssen wissen, dass die Feinde der Unabhängigkeitsbefürworter auch die Feinde Europas sind: die Rechtsextremen, in Spanien vertreten durch die Partei VOX. Matteo Salvini, Viktor Orban, Marine Le Pen oder Santiago Abascal sind in diesem Punkt gleich. Demokratie in Katalonien zu verteidigen bedeutet, Europa und sein Überleben zu verteidigen. Lasst uns die Gelegenheit nutzen: Demokratie schützen, um Europa zu retten.
Der Text wurde übersetzt und zur Verfügung gestellt von der katalanischen Regionalregierung. oleksiyzarubin@gencat.cat