Rassistischer Anschlag in Hanau: 43-Jähriger erschießt zehn Menschen
Mehr als vier Monate nach dem Anschlag von Halle erschüttert Deutschland ein weiteres blutiges Attentat. Ein Deutscher tötet in Hanau neun Menschen. Anschließend erschießt er wohl seine Mutter und sich selbst. Merkel spricht von „Gift in unserer Gesellschaft“
Hanau – Bei einem mutmaßlich rechtsradikalen und rassistischen Anschlag hat ein Deutscher im hessischen Hanau neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen. Anschließend soll der 43-jährige Sportschütze seine 72 Jahre alte Mutter und sich selbst getötet haben. Der Mann habe eine „zutiefst rassistische Gesinnung“ gehabt, sagte Generalbundesanwalt Peter Frank am Donnerstag in Karlsruhe. Das habe die Auswertung von Videobotschaften und einer Art Manifest auf dessen Internetseite ergeben. Die Todesopfer seien zwischen 21 und 44 Jahre alt gewesen und hätten Migrationshintergrund gehabt. Der Täter habe sechs weitere Menschen verletzt, einen schwer.
Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) sagte am Morgen in Wiesbaden, der Generalbundesanwalt ermittle wegen des Verdachts einer terroristischen Gewalttat - Frank selbst sprach am Nachmittag nicht davon. Nach einer Telefonschalte der Innenminister von Bund und Ländern sagte der bayerische Ressortchef Joachim Herrmann (CSU), man gehe davon aus, „dass es sich um einen rechtsradikalen, ausländerfeindlichen Hintergrund handelt“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel verurteilten die Tat und Rassismus auf das Schärfste.
📽 Video | ORF-Korrespondent Andreas Jölli erklärt den Tathergang
Der mutmaßliche Todesschütze Tobias R. kommt laut den Behörden aus Hanau. Gegen 22.00 Uhr am Mittwochabend eröffnete er in einer Shisha-Bar das Feuer. Danach schoss er in einer weiteren Bar und einem Kiosk um sich. Der türkische Botschafter in Berlin teilte mit, unter den Todesopfern sei mindestens ein türkische Staatsbürger. „Drei oder vier“ Opfer könnten die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. Zuvor war von fünf türkischen Bürgern die Rede gewesen.
Suche nach Mitwissern oder Unterstützern
Nach der Tat habe der mutmaßliche Täter in der eigenen Wohnung erst seine Mutter und dann sich selbst erschossen, sagte Beuth. Der 43-Jährige habe die Waffen legal besessen. Nach Auskunft der zuständigen Kreisbehörde hatte er 2013 eine waffenrechtliche Besitzerlaubnis bekommen, in seiner Waffenbesitzkarte seien zuletzt zwei Waffen eingetragen gewesen. Er sei Mitglied im Schützenverein Diana Bergen-Enkheim gewesen, sagte Thilo von Hagen, Sprecher des Deutschen Schützenbundes (DSB).
Die Bundesanwaltschaft teilte mit: „Es liegen gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund der Tat vor.“ Der mutmaßliche Täter habe auf seiner Internetseite auch wirre Gedanken und abstruse Verschwörungstheorien geäußert. Man prüfe, ob der mutmaßliche Täter Mitwisser oder Unterstützer für seinen Anschlag hatte. Dazu würden das Umfeld und die Kontakte des Mannes im In- und Ausland abgeklärt.
Beuth hatte zuvor gesagt, der Mann habe wohl allein gehandelt. „Bislang liegen keine Hinweise auf weitere Täter vor.“ Der mutmaßliche Täter sei zuvor nicht im Visier der Ermittler gewesen. Er sei weder als „fremdenfeindlich“ bekannt gewesen noch polizeilich in Erscheinung getreten.
Der mutmaßliche Täter hat vor dem Verbrechen mehrere Videos veröffentlicht. Ein Hinweis auf eine bevorstehende Gewalttat in Deutschland ist darin nicht enthalten. Der Mann spricht in in einem der Videos in fließendem Englisch von einer „persönlichen Botschaft an alle Amerikaner“. Der Clip wurde offensichtlich in einer Privatwohnung aufgenommen.
Darin sagt der Mann, in den USA existierten unterirdische Militäreinrichtungen, in denen Kinder misshandelt und getötet würden. Dort würde auch dem Teufel gehuldigt. Amerikanische Staatsbürger sollten aufwachen und gegen diese Zustände „jetzt kämpfen“. Er behauptet auch, Deutschland werde von einem Geheimdienst gesteuert. Außerdem äußert er sich negativ über Migranten aus arabischen Ländern und der Türkei.
Österreicher bestätigt Mail-Kontakt zu „wirrem" Täter
Der 43-Jährige hat offenbar im Jahr 2019 Mail-Kontakt mit einem Niederösterreicher gehabt. In einem 24-seitigen Manifest schrieb der Deutsche über einen österreichischen Staatsbürger, der ihm empfohlen wurde, nachdem er sich selbst „in den Fängen einer Geheimorganisation" gesehen hatte. Der Mann aus dem Bezirk Neunkirchen bestätigte den Mail-Austausch am Donnerstag den NÖN.
Auf Seite 17 des Manifests schrieb demnach der Deutsche von mehreren Versuchen, Anzeige wegen illegaler Überwachung zu erstatten. 2019 habe er sich an verschiedene Privatermittler gewendet und Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft Hanau sowie beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe eingebracht. "Das bestmögliche Ergebnis war, dass ein Privatermittler" ihm ein Parapsychologisches-Institut in Österreich empfahl, an dass er sich wenden solle. „Doch dieser Herr ... schrieb mir ein paar Wochen später, dass er mit nicht weiterhelfen könne", hielt der 43-Jährige fest.
„Ich bin nur froh, dass ich mich nicht näher auf die wirren Dinge und den Mann eingelassen habe", sagte der Niederösterreicher, der in dem Manifest namentlich genannt wird. Er habe dem Deutschen klar gemacht habe, dass er ihm nicht helfen könne. „Ich habe in seiner ersten Mail gleich erkannt, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat und ihm gar nicht zurückgeschrieben. Allerdings hat er keine Ruhe gegeben und nicht locker gelassen." Der letzte Mail-Kontakt stamme vom 6. Jänner.
Fassungslosigkeit in 100.000-Einwohner-Stadt
Die ersten Schüsse fielen den Ermittlern zufolge am Mittwochabend gegen 22 Uhr. Am Heumarkt in der Hanauer Innenstadt blicken Passanten später in der Nacht immer wieder fassungslos auf die Szenerie am abgesperrten Tatort. Nicht weit entfernt in einer Seitenstraße liegen Patronenhülsen auf dem Fußweg. Nur rund zwei Kilometer davon entfernt im Stadtteil Kesselstadt befindet sich ein weiterer Tatort. Dort wurden ebenfalls Schüsse abgefeuert.
Einer der Tatorte ist eine Shisha-Bar am Heumarkt, einer Straße, die etwas am Rande der Innenstadt von Hanau mit seinen rund 100.000 Einwohnern liegt. Es ist eine Gegend mit Spielhallen, Wettlokalen und Döner-Imbissbuden. Ein anderer Tatort ist fast in Laufnähe, mit dem Auto sind es bis dahin nur etwa fünf Minuten. Der Kurt-Schumacher-Platz liegt in einem Wohnviertel. Dort befindet sich im Erdgeschoss eines Wohnblocks eine Art Kiosk, mit der Aufschrift „24/7 Kiosk“ auf der großen Glasscheibe, auf einem Reklame-Leuchtschild steht „Arena Bar & Café“. Der Blick ins Innere ist versperrt, die Scheiben sind teils halbhoch mit orangefarbener Folie beklebt.
📽 Video | „Zeugen filmten in Haunau die Geschehnisse“
Merkel: „Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift"
Sowohl in Deutschland als auch international wurde mit Bestürzung auf die Gewalttat reagiert. So sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zu Mittag: „Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift. Und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft und es ist Schuld an schon viel zu vielen Verbrechen."
Bundespräsident Steinmeier sprach in Hanau von einer „Terrortat“. „Heute ist die Stunde, in der wir zeigen müssen: Wir stehen als Gesellschaft zusammen, wir lassen uns nicht einschüchtern, wir laufen nicht auseinander“, sagte er am Donnerstabend bei einer Trauerfeier. „Wir stehen zusammen, wir halten zusammen, wir wollen zusammen leben. Und wir zeigen es wieder und wieder. Das ist das stärkste Mittel gegen den Hass.“
Seehofer ordnet Trauerbeflaggung in Deutschland an
Merkel und auch der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) sagten ihre heutigen Termine ab, um nach Hanau zu reisen.
Seehofer erklärte am Tatort in Hanau, er habe Trauerbeflaggung für alle öffentlichen Gebäude in Deutschland angeordnet. Am Abend werde er zudem mit allen Innenministern der Länder darüber beraten, wie die Sicherheit vor allem bei öffentlichen Veranstaltungen in den nächsten Tagen gewährleistet werden könne.
Van der Bellen: „Verabscheuungswürdige Tat"
Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen bezeichnete „die Nachrichten über die mutmaßlich rassistisch & rechtsextrem motivierten Morde" in Hanau als schrecklich. „Eine solche verabscheuungswürdige Tat ist auf das Schärfste zu verurteilen. Unser Mitgefühl ist bei den Opfern, ihren Angehörigen, Freundinnen und Freunden", schrieb er auf Twitter.
Kurz: „Abscheulicher rechtsradikaler Terroranschlag“
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hat den rassistischen Anschlag in Hanau „aufs Schärfste“ verurteilt. Am Rande des EU-Gipfels in Brüssel sagte er am Donnerstag, dies sei ein „abscheulicher rechtsradikaler Terroranschlag“. Es zeige, dass man in Europa radikalem Gedankengut entschieden entgegentreten müsse.
Auch vom Französischen Staatschef Emmanuel Macron, von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie vom Türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan kamen heute Beileidsbekundungen für die Opfer.
Die SPD hat zu einer Mahnwache vor dem Brandenburger Tor in Berlin am Donnerstagabend aufgerufen. „Wir müssen ein Zeichen setzen. Gegen den rechten Terror, gegen den rechten Hass, gegen Faschismus", schrieb Generalsekretär Lars Klingbeil am Donnerstag auf Twitter.
Im Hamburger Wahlkampf haben die SPD und die Grünen ihre Abschlussveranstaltung am Donnerstag wegen der mutmaßlich rechtsextremen und rassistischen Gewalttat von Hanau abgesagt. „Stattdessen rufen wir dazu auf, sich um 16.30 Uhr auf dem Rathausmarkt dem Protest und dem Gedenken an die Opfer des rechtsterroristischen Anschlags in #Hanau anzuschließen“, twitterte die Landesvorsitzende und Sozialsenatorin Melanie Leonhard. „Angesichts der schrecklichen Ereignisse in #Hanau dürfen wir den Wahlkampf nicht einfach weiterführen“, betonte Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD).
Der deutsche Grünen-Politiker Cem Özdemir warnte davor, die Gefahr von Rechts zu verharmlosen. „Nach NSU, Lübcke und Halle reden manche immer noch von Einzeltätern. Damit muss endlich Schluss sein", sagte Özdemir den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
„Das ist weder rechter noch linker Terror, das ist die wahnhafte Tat eines Irren", twitterte indessen der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen. „Jede Form politischer Instrumentalisierung dieser schrecklichen Tat ist ein zynischer Fehlgriff."
Oberbürgermeister erschüttert
Der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) zeigt sich in einer Sondersendung von Bild live erschüttert über die Gewalttaten. „Das war ein furchtbarer Abend, der wird uns sicherlich noch lange, lange beschäftigen und in trauriger Erinnerung bleiben.“ Deshalb soll am Donnerstagabend eine Mahnwache für die Opfer des schweren Gewaltverbrechens stattfinden. Die Gedenkveranstaltung soll am Abend um 18 Uhr auf dem Marktplatz beginnen. Gleichzeitig kündigte der Deutsche Gewerkschaftsbund anlässlich der mutmaßlich rassistisch motivierten Gewalttat eine Kundgebung zur gleichen Zeit an der Frankfurter Paulskirche an.
Nach der mutmaßlich rechtsradikalen Gewalttat von Hanau forderte die Türkische Gemeinde in Deutschland, dass sich die Sicherheitsbehörden voll und dauerhaft auf den Rechtsextremismus konzentrieren. „Dieser Terror ist kein 'Angriff auf uns alle', er trifft gezielt bestimmte Menschen, aus rassistischen Motiven", erklärte die Gemeinde am Donnerstag.
Türkische Kulturgemeinde fordert Aufklärung „bis ins kleinste Detail"
Auch die Türkische Kulturgemeinde in Österreich teilte am Donnerstag ihr Beileid für die Opfer mit und forderte eine Aufklärung „bis ins letzte Detail." „Unsere Gedanken sind bei den Familien und Freunden der Opfer in Hanau," hieß es auf der Homepage der Organisation.
Schweigeminute bei Salzburgs Auftritt im Fußball-Europacup
Beim Europa-League-Gastspiel von Fußball-Meister Red Bull Salzburg am Abend bei Eintracht Frankfurt wird auch der Opfer des Terroranschlags von Hanau gedacht. Vor Spielbeginn (18.55 Uhr/live Puls 4) wird in der mit 47.000 Zuschauern ausverkauften Commerzbank-Arena eine Schweigeminute abgehalten. Dazu spielen beide Teams mit Trauerflor, gaben die beiden Clubs bekannt.
Laut Eintracht-Angaben soll mit der Aktion auch ein klares Zeichen gegen jegliche Form von Rassismus und Extremismus gesetzt werden. (dpa, APA)
Rassistischer Terror in Deutschland
Mit Messer, Pistolen und Bomben setzen manche Rechtsextreme ihre Gesinnung in die Tat um – wie in Hanau haben viele ihrer Opfer einen Migrationshintergrund.
- HALLE, Oktober 2019: Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur will ein schwerbewaffneter Deutscher eine Synagoge stürmen. Eine schwere Holztür verhindert ein Blutbad. Vor der Festnahme erschießt der 27-Jährige zwei Unbeteiligte. Er gesteht rechtsextreme und antisemitische Motive.
- MÜNCHEN, Juli 2016: Am Olympia-Einkaufszentrum in München erschießt ein 18-Jähriger neun Menschen und sich selbst. Die meisten Opfer sind Jugendliche mit südosteuropäischen Wurzeln. Motive des Täters mit deutscher und iranischer Staatsbürgerschaft: Mobbing, psychische Probleme und rechtsradikale Ansichten. Die Waffe hatte er sich im sogenannten Darknet besorgt.
- DÜSSELDORF, Juli 2000: Bei einem Attentat auf Zuwanderer aus Osteuropa werden zehn Menschen verletzt, ein ungeborenes Kind stirbt. Der Sprengsatz war an der S-Bahn-Station Wehrhahn befestigt. Das Landgericht spricht einen Verdächtigen mit Kontakten in die rechte Szene wegen "dürftiger Beweislage" Mitte 2018 frei. Die Tat ist weiter ungeklärt.
- SOLINGEN, Mai 1993: Bei einem Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Großfamilie werden fünf Frauen und Mädchen getötet, 14 Menschen verletzt. Die vier Täter aus der Solinger Neonaziszene werden wegen Mordes verurteilt.
- MÖLLN, November 1992: Neonazis setzen ein von Türken bewohntes Haus in der schleswig-holsteinischen Stadt in Flammen. Drei Frauen sterben. Ein Täter muss lebenslänglich in Haft, sein jugendlicher Komplize zehn Jahre.
- MÜNCHEN, Februar 1970: Sieben Menschen sterben bei einem nächtlichen Brandanschlag auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde. Brennendes Benzin hatte den Opfern den Fluchtweg versperrt. Wer für das Attentat auf die jüdischen Bewohner verantwortlich ist, wird nie geklärt.