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Bilanzskandal erschüttert Wirecard: Erdbeben an der Börse

Der Bilanzskandal um den Zahlungsabwickler nimmt kein Ende. Jetzt muss der Dax-Konzern abermals die Vorlage der Jahreszahlen verschieben - und sieht sich als Opfer eines "gigantischen Betrugs".
© Sven Hoppe

Wirecard war ein Star unter Deutschlands IT-Schmieden, nun ist der Dax-Konzern tief in einem Sumpf von Bilanzfälschungsverdacht und juristischen Problemen versunken. Nicht nur Aktionärsvertreter bringen sich angesichts der Milliardensummen in Stellung.

Aschheim, Bonn – Aus den Manipulationsvorwürfen gegen den Dax-Konzern Wirecard ist ein handfester Bilanzskandal mit Verdacht auf „gigantischen Betrug“ geworden. Der Dax-Konzern verschob am Donnerstag ein weiteres Mal die Vorlage seiner Jahresbilanz für 2019. Der Grund: Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY (Ernst & Young) stellte kein Testat für die Bilanz des Zahlungsabwicklers aus, denn bei Buchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten in Asien ist wegen Täuschungsverdachts unklar, ob die Gelder existieren. Laut Wirecard geht es um etwa ein Viertel der Bilanzsumme.

Sowohl die Finanzaufsicht Bafin als auch die Münchner Staatsanwaltschaft kündigten an, den Fall prüfen zu wollen. Wirecard gerät nun auch finanziell unter Druck. Sollte der Konzern einen testierten Abschluss bis zu diesem Freitag (19. Juni) nicht vorlegen, könnten Banken ihm bestehende Kredite in Höhe von etwa zwei Milliarden Euro kündigen, warnte das Unternehmen.

Aktie stürzte ab

Die Nachrichten schockten die Frankfurter Börse: Die Wirecard-Aktie verlor zeitweise fast 70 Prozent ihres Werts und rutschte von über 100 auf 35 Euro - die Kursverluste summierten sich auf mehrere Milliarden Euro. Vorübergehend wurden die Aktien vom Handel ausgesetzt. Wirecard-Vorstandschef Markus Braun und seine Kollegen gingen anschließend auf Tauchstation. Am Nachmittag sagte das Unternehmen auch die mündliche Präsentation der Bilanz für Medien und Analysten ab. Die Deutsche Börse in Frankfurt prüft Sanktionen gegen wegen der nicht fristgerechten Lieferung der Jahresbilanz.

Wirecard sehe sich als mögliches Opfer eines „gigantischen Betrugs“, sagte ein Firmensprecher. Der Konzern will Anzeige gegen Unbekannt erstatten. „Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht“, erklärte Braun schriftlich. Ihm zufolge ist unklar, „ob betrügerische Vorgänge zum Nachteil von Wirecard vorliegen“.

Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young gehen davon aus, dass „zu Täuschungszwecken“ falsche Saldenbestätigungen für die Treuhandkonten ausgestellt wurden, und zwar von einem ungenannten Treuhänder oder zwei ebenfalls ungenannten asiatischen Banken.

Entscheidende Belege fehlten

Die Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka forderte erneut den Rücktritt von Wirecard-Chef Braun. „Wir sind fassungslos“, sagte Ingo Speich, Leiter des Bereichs für gute Unternehmensführung bei der Deka. „Auch hier hat sich wieder gezeigt, dass den Ankündigungen von Wirecard keine Taten folgen. Ein personeller Neuanfang ist dringender denn je.“ Er hoffe, dass sich der erneute Vertrauensentzug am Kapitalmarkt nicht doch noch auf das laufende Geschäft von Wirecard auswirke.

Eigentlich wollte der Zahlungsabwickler aus Aschheim bei München am Vormittag die mehrfach verschobene Veröffentlichung des Jahresabschlusses nachholen. Nachdem der Konzern die Abschlüsse der Jahre 2016 bis 2018 bereits einer Sonderprüfung durch das Prüfunternehmen KPMG unterzogen hatte, schauten sich die regulären Prüfer von Ernst & Young die 2019er Zahlen besonders gründlich an.

Doch für das Testat, das sie dem Abschluss vor der Veröffentlichung hätten geben müssen, fehlten entscheidende Belege. Bei den zwei ungenannten asiatischen Banken, die die Treuhandkonten seit 2019 führen, konnten die betreffenden Kontonummern „nicht zugeordnet werden“, wie das Unternehmen formulierte.

Laut Wirecard-Chef Braun haben die EY-Prüfer früher erteilte Bestätigungen der Banken nicht mehr anerkannt. „Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht“, versicherte der unter Druck stehende Manager, gegen den die Münchner Staatsanwaltschaft in anderem Zusammenhang wegen möglicher Falschinformation von Anlegern in zwei Börsen-Pflichtmitteilungen ermittelt.

Finanzaufsicht und Staatsanwaltschaft ermitteln

Wirecard ist seit einer Artikelserie mit Vorwürfen in der britischen Financial Times Anfang 2019 in Bedrängnis. Mit einer KPMG-Sonderprüfung früherer Bilanzen hatte der Vorstand den angekratzten Ruf des Konzerns eigentlich wieder aufpolieren wollen. Doch dies setzte dann die Kette in Gang, die mit der Meldung vom Donnerstag einen vorläufigen Höhepunkt erreichte.

Bafin und Münchner Staatsanwaltschaft sind bereits in doppelter Hinsicht mit Wirecard beschäftigt. Die Finanzaufsicht erstattete wegen möglicherweise irreführender Ad-hoc-Mitteilungen des Strafanzeige, die Strafverfolger ermitteln seither gegen Braun und seine Kollegen im Wirecard-Vorstand. Gleichzeitig wird ermittelt, ob Spekulanten Wirecard mit illegalen Kursmanipulationen schädigten.

Nun kündigten beide Behörden an, ihre Untersuchungen auszuweiten. „Selbstverständlich fließt der aktuelle Sachverhalt in unsere noch laufende Marktmanipulationsuntersuchung ein“, sagte eine Bafin-Sprecherin. Und die Münchner Staatsanwaltschaft erklärte, die Behörde stehe im Kontakt mit dem Unternehmen und prüfe den Vorgang.

„Das ist ein rabenschwarzer Tag“

Die Anlegergemeinschaft SdK wiederum überlegt eine Schadenersatz-Sammelklage gegen Wirecard. Der SdK-Vorstand hat bereits eine Anwaltskanzlei eingeschaltet - die prüft, ob auch die Wirtschaftsprüfer von EY zivilrechtlich belangt werden könnten.

„Das ist ein rabenschwarzer Tag“, sagte Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Anlegergemeinschaft DSW. „Wir sind in der Situation, dass Wirecard selbst nicht mehr für Aufklärung und Vertrauen sorgen kann.“ Jetzt sei der Aufsichtsrat gefordert: „Was bedeutet das personell, was bedeutet das für die Aufstellung des Konzerns?“ Im Raum steht nun ein Rückzug oder Rauswurf von Vorstandschef und Großaktionär Braun. Die Amtszeit des österreichischen Managers endet am 31. Dezember.

Manche Anleger zumindest können ein bisschen aufatmen. Etwa die zu den Genossenschaftsbanken gehörende Fondsgesellschaft Union Investment, die im März direkt und über Finanzinstrumente noch über vier Prozent der Wirecard-Anteile gehalten hatte. „Wir haben unseren Aktienanteil an Wirecard in den vergangenen Wochen drastisch reduziert“, sagte Fondsmanager Andreas Mark.

Größter Verlierer war auch in finanzieller Hinsicht Braun: Er besitzt als größter Anteilseigner sieben Prozent der gut 123 Millionen Wirecard-Aktien. Der zeitweise Kursverfall um 70 Prozent bedeutete für ihn einen rechnerischen Wertverlust von über 600 Millionen Euro. (dpa)