„Rollen Köpfe?" Ferrari-Teamchef Binotto nach erneutem Debakel unter Druck
Durch die Überrundungen von Mercedes-Weltmeister Hamilton kassierte Ferrari in Ungarn die Höchststrafe. Die italienische Presse fordert Konsequenzen nach dem katastrophalen Auftakt. Diese könnten auch Teamchef Mattia Binotto treffen.
Maranello – Mattia Binotto setzte sich auf einen roten Stuhl und rollte immer weiter nach hinten - bis der Teamchef des schwer kriselnden Formel-1-Rennstalls Ferrari mit dem Rücken zur Wand saß. Vermutlich war sich der 50-Jährige der Symbolhaftigkeit gar nicht bewusst, als er dort hockte bei der Videokonferenz in einem winzigen Raum im Motorhome der Scuderia auf dem Hungaroring.
Sehr schmerzlich "für uns und unsere Fans"
Flankiert wurde er dabei von seinen beiden enttäuschten Fahrern Sebastian Vettel und Charles Leclerc, die im Ungarn-Grand-Prix nicht über die Ränge sechs bzw. elf hinausgekommen waren. Beide waren auf der Rennstrecke vor den Toren Budapests sogar vom überragenden Lewis Hamilton im Mercedes sogar überrundet worden - Höchststrafe. Sehr schmerzlich sei das "für uns und unsere Fans", gestand Binotto.
Die ersten drei Rennen sind aus Ferrari-Sicht überstanden, schlimmer noch als befürchtet. Grund zur Freude brachte der Neustart nicht. Die Marke aus Maranello, die sich im Winter noch so auf den 1.000. Grand Prix ihrer so ruhmreichen Historie in der Motorsport-Königsklasse in diesem Jahr gefreut hatte, rätselte auch nach ihrem 994. WM-Lauf über den SF1000 und dessen Potenzial.
📊 Konstrukteurs-Wertung nach drei Rennen - Ferrari nur Fünfter:
Der ehemalige Serien-Weltmeister Vettel erreichte mit Platz sechs seine beste Saisonplatzierung. Leclerc bekam dagegen als Elfter nicht einmal einen Punkt. "Unsere Normalität ist nicht gut genug", betonte Vettel auf seiner quälenden Abschiedstournee bei der Scuderia, die er am Saisonende verlassen wird. Ein paar Tage Lebensnormalität bei seiner Familie in der Schweizer Wahlheimat dürften dem Deutschen nun gut tun. Nach den drei Stresswochen ist am kommenden Wochenende rennfrei, ehe es zum Doppelpack nach Silverstone geht - zu den Heimrennen von Formel-1-Dominator Hamilton.
Fast zwangsläufig wissen auch die beiden Ferrari-Piloten, dass sie den Briten auf dem Weg zum siebenten WM-Triumph in der Corona-Notsaison nicht aufhalten werden. Auf die Frage, wie der 35-Jährige überhaupt noch davon abzuhalten sei, antworte Vettel: "Wenn Valtteri Weltmeister wird." Gemeint war Hamiltons Teamkollege Bottas, doch auch den hat der 86-fache Grand-Prix-Gewinner und 90-fache Polesetter nach dessen Auftaktsieg schon wieder im Griff.
📰 Pressestimmen zum Ungarn-Grand-Prix
GROSSBRITANNIEN:
- The Sun: „Hamilton fährt auf seiner Lieblingsstrecke einen leichten Sieg ein - er befindet sich mit acht Siegen auf derselben Strecke nun in Augenhöhe mit Formel 1-Legende Michael Schumacher.“
- The Guardian: „Hamilton und sein Mercedes-Team haben am Sonntag erneut geliefert, und diesmal mit einer so überwältigenden Überlegenheit, dass sich nach nur drei Rennen eine spürbare Kluft zwischen ihnen und ihren Rivalen auftut.“
ITALIEN:
- Corriere dello Sport: „Hamilton, unerreichbar. Der britische Mercedes-Fahrer hat das Rennen dominiert. Er triumphierte auch dank einer hervorragenden Strategie. Er erreichte außerdem Michael Schumachers Rekord von acht Siegen auf derselben Strecke.“
- La Gazzetta dello Sport: „Hamilton, kaiserlich. Der Engländer und Mercedes tobten sich auf dem Hungaroring aus, Ferrari abgeschlagen und überrundet. (...) Ferrari hat erneut enttäuscht. Das Wochenende versprach schwierig zu werden, aber ein überrundeter Cavallino ist immer schwer zu akzeptieren.“
SPANIEN:
- Marca: „Mit einer perfekten Fahrerleistung, ohne jeglichen Riss, hat Hamilton seinen zweiten Sieg hintereinander eingefahren. Er ist unersättlich. In der schnellen Runde ließ er für die anderen nicht einmal die Krümel übrig.“
- As: „Hamilton ist Schumacher auf den Fersen. Das war ein erdrückender Sieg des Briten von der Pole aus. Von den Schlachten auf der Strecke blieb er unberührt.“
"Das Auto und der Motor sind ein bisschen ein Biest, genau was wir brauchten. Es ist ein Auto, das Fahrer mögen", meinte Mercedes-Teamchef Toto Wolff zum schwarz lackierten Silberpfeil, von dessen Qualität der Ferrari meilenweit entfernt ist. "Wir können die Lücke erst dann schließen, wenn wir verstanden haben, warum unser Auto so langsam ist", lautete Binottos fast schon verzweifelter Kommentar. Und dazu soll alles und jeder nach der Rückkehr in die Heimat offensichtlich auf den Prüfstand kommen. "Jeder wird seine Arbeit analysieren und den Mut haben müssen, den Kurs zu wechseln, wenn das notwendig ist, denn die aktuelle Dynamik ist nicht akzeptabel", stellte der Ferrari-Teamchef klar.
Es gebe keine andere Lösung, "um diese Situation in den Griff zu kriegen". Im Detail äußerte sich Binotto nicht dazu. "Rollen Köpfe?", fragte aber bereits La Gazzetta dello Sport und gab sich selbst die spekulative Antwort: "Ja, wenn es bedeutet, dass die verschiedenen Abteilungen besser funktionieren."
Binotto wurde den hohen Ansprüchen nicht gerecht
Als Teamchef ist Binotto selbst maßgeblich verantwortlich für die Performance des Rennstalls - von enttäuschenden Ergebnissen bis zu teaminternen Karambolagen und dem frühen Ausfall beider Autos beim zweiten Rennen am Sonntag vor einer Woche in Spielberg. Seit Jänner 2019 ist er Ferrari-Teamchef. Der Maschinenbau-Ingenieur löste damals den ehemaligen Zigaretten-Manager Maurizio Arrivabene ab und sollte die Scuderia zum ersten Fahrertitel seit 2007 (Kimi Räikkönen) führen.
Doch von diesen hohen Ansprüchen ist Ferrari aktuell meilenweit entfernt. Nach drei Rennen belegen Leclerc, der im Auftaktrennen in Österreich noch Zweiter war, und Vettel in der WM nur die Ränge sieben bzw. zehn. Und in der Konstrukteurswertung ist Ferrari lediglich Fünfter und damit nur noch graues Mittelmaß. Kein Wunder also, dass bereits heftig über Binottos Ablöse spekuliert wird.