Europa nach dem Gipfel: Einen Schritt weiter, aber unter Schmerzen
Ein riesiger Schritt für Europa oder eigentlich doch eher ein Debakel? Was dieser schier endlose EU-Gipfel für die Menschen in Österreich und Europa gebracht hat
Brüssel – Nur 25 Minuten haben nach Zeitrechnung der EU gefehlt, um den mehr als 91-stündigen Brüsseler Sondergipfel zum Haushalt für die kommenden sieben Jahre zum längsten in der Geschichte der Union zu machen. In die Historie wird er allerdings dennoch eingehen – denn erstmals hat die EU beschlossen, gemeinsam im großen Stil Schulden aufzunehmen und diese gemeinsam über Jahrzehnte abzustottern.
Das Paket umfasst 1074 Milliarden Euro für den siebenjährigen Haushaltsrahmen bis 2027 und 750 Milliarden Euro für ein Konjunktur-und Investitionsprogramm.
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Was bedeutet das alles? Die wichtigsten Antworten im Überblick
Ist der Gipfel wirklich "historisch"?
Das Wort ist schwülstig, aber beschlossen wurde tatsächlich etwas Neues: Die EU-Kommission soll das Recht bekommen, im Namen der EU Schulden im großen Stil aufzunehmen und das kreditfinanzierte Geld als Zuschuss vor allem an die von der Pandemie getroffenen Staaten weiterzugeben. Dieses Geld – 390 Milliarden Euro – wird von allen 27 Staaten gemeinsam über den EU-Haushalt jahrzehntelang abbezahlt, also nicht nur vom Nutznießer. Das ist ein gigantisches Gemeinschaftsprojekt und eine Umverteilung in nie gekanntem Maßstab. EU-Befürworter sehen darin einen wichtigen Schritt, enger zusammenzuwachsen. Kritiker fürchten genau das.
Wie sollen die Riesenschulden abbezahlt werden?
Mit im Paket sind neue eigene Finanzquellen für die europäische Ebene, zum Beispiel die Plastikabgabe oder Klimazölle auf im Ausland umweltschädlich produzierte Waren. Das soll helfen, die Schulden gegenzufinanzieren. Der EU-Haushalt wird damit aber auch etwas weniger abhängig von den Gaben der europäischen Hauptstädte.
Hilft das Paket, wie angekündigt, Klima und Digitalisierung?
Ja – aber nicht im ursprünglich geplanten Umfang. Eigentlich wollte die EU-Kommission knapp 200 Milliarden Euro für konkrete EU-Programme reservieren. Diese Zweckbindung fiel teils den Verhandlungen zum Opfer. So wurden die für das Forschungsprogramm Horizon vorgesehenen Mittel von 13,5 auf nur noch 5 Milliarden Euro reduziert. Ähnlich erging es einem Fonds, der die sozioökonomischen Auswirkungen der Umstellung auf klimafreundlichere Technologien abmildern soll. Er wird nun nur mit 10 statt mit 30 Milliarden Euro unterstützt. Das Programm InvestEU, das eine nachhaltige Infrastruktur, Forschung, Innovation und Digitalisierung fördern soll, verliert sogar 28 Milliarden Euro. "Das ist nicht sparsam. Das ist dumm", kommentierte der deutsche Politikwissenschafter Henrik Enderlein auf Twitter.
Wer sind die politischen Gewinner, wer die Verlierer?
Besonders aufgeräumt zeigten sich nach dem Gipfel die Vertreter der selbst ernannten "Sparsame Vier": Österreich, die Niederlande, Dänemark, Schweden, mittlerweile erweitert um Finnland. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) lobte diesen Bund als Interessenvertretung der kleineren Staaten gegen die großen. Gelohnt hat sich der Einsatz vor allem in Form von sehr großen Beitragsrabatten für diese Staaten. Und sie drückten die Summe der nicht rückzahlbaren Zuschüsse von 500 Milliarden auf 390 Milliarden Euro.
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban feierte seinerseits, dass die Vergabe von EU-Geldern nicht wie geplant an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards geknüpft werde. Das stimmt so nicht - doch ist die entsprechende Klausel dazu in der Abschlusserklärung reichlich vage formuliert. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gibt sich trotzdem sicher, dass die neue Klausel durchgreifen werde.
Wie geht es jetzt weiter – ist der Deal wirklich schon durch?
Nein. Das Europaparlament muss den EU-Haushalt billigen – und will jetzt mitreden und nachverhandeln. "Das Europäische Parlament kann das Rats-Ergebnis so nicht akzeptieren", sagte der deutsche Grünen-Haushälter Rasmus Andresen. Vor allem die Formulierung der Rechtsstaatsklausel kritisierte er scharf als "Kuschen vor Orban". Von der Leyen kündigte sofortige Beratungen mit den Abgeordneten an und betonte, ohne das Parlament gehe gar nichts. Nötig ist darüber hinaus eine Ratifizierung durch nationale Parlamente in allen 27 EU-Staaten. Dabei geht es um den sogenannten Eigenmittelbeschluss. Dahinter versteckt sich das Recht der Kommission, Schulden aufzunehmen, für die die EU-Staaten in letzter Konsequenz haften müssen.
War der EU-Gipfel ein Erfolg oder Debakel?
Das ist wohl eine Perspektivfrage: Optimisten sagen, das Treffen habe gezeigt, dass die EU-Staaten für die Gemeinschaft letztlich doch an einem Strang ziehen. Für Pessimisten hat der Gipfel tiefe ideologische Gräben und Interessenskonflikte offenbart, die das Ergebnis verwässert und ein starkes Signal der Geschlossenheit an internationale Konkurrenten und Partner wie China und die USA verhindert haben. (dpa)