Katastrophe in Beirut

Explosion in Beirut: Druck auf Regierung wächst nach weiterem Rücktritt

Am Sonntag kam es in Beirut zu Zusammenstößen zwischen der Demonstranten und Armeeeinheiten.
© ANWAR AMRO

Stunden nach Informationsministerin Manal Abdel Samad sei am Sonntag auch Umweltminister Damianos Kattar zurückgetreten, hieß es aus Regierungskreisen. Am Montag folgte Justizministerin Marie Claude Najm. Die Regierung des Libanon ist aufgelöst, wenn mehr als ein Drittel der 20 Kabinettsmitglieder ihr Amt niederlegen.

Beirut – Nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut und massiver Gewalt bei Protesten gegen die politische Elite wird der Druck auf die libanesische Regierung immer größer. Mit Justizministerin Marie-Claude Najm erklärte am Montag ein weiteres Mitglied des Kabinetts von Regierungschef Hassan Diab seinen Rücktritt, wie der libanesische TV-Sender MTV berichtete.

Diab wollte seinen Ministern am Montag eine vorgezogene Neuwahl vorschlagen, um die Lage zu beruhigen und einen Weg aus der schweren Krise zu bahnen.

Zuvor hatten am Sonntag bereits Informationsministerin Manal Abdel Samad und Umweltminister Damianos Kattar ihre Ämter aufgegeben. Die Regierung gerät mit dem Rücktritt immer stärker ins Wanken. Sollten vier weitere Minister zurücktreten, wäre sie aufgelöst.

📽️ Video | Proteste und Ruf nach Neuwahlen in Beirut

Wurde Explosion durch grobe Fahrlässigkeit verursacht?

Viele Libanesen machen die Regierung für die verheerende Explosion am vergangenen Dienstag mit mindestens 160 Toten und mehr als 6.000 Verletzten verantwortlich. Sie soll durch große Mengen der hochexplosiven Chemikalie Ammoniumnitrat ausgelöst worden sein, die dort über Jahre ohne Sicherheitsvorkehrungen lagerten. Die Ermittlungen zur genauen Ursache der Katastrophe laufen jedoch noch.

Justizministerin Najm begründete ihren Schritt mit der verheerenden Explosion und den Demonstrationen, wie MTV weiter berichtete. Sie war in der vergangenen Woche bei einem Besuch am Ort der Katastrophe von aufgebrachten Menschen beschimpft und mit Wasser bespritzt worden, wie auf einem Video in den sozialen Medien zu sehen war.

Eine Trauer- und Protestkundgebung im Zentrum Beiruts war am Wochenende in Gewalt und Chaos umgeschlagen. Aufgebrachte Demonstranten wollten Absperrungen zum Parlament durchbrechen, Sicherheitskräfte setzen massiv Tränengas ein. Über Stunden kam es zu Zusammenstößen. Ein Polizist wurde nach offiziellen Angaben getötet, mehr als 200 Menschen erlitten Verletzungen. Aufgebrachte Demonstranten stürmten mehrere Ministerien.

Amtsantritt erst im Jänner nach monatelangem Ringen

Diab hatte erst im Jänner nach einer monatelangen Hängepartie das Amt des Regierungschef in dem Land am Mittelmeer übernommen. Er folgte auf Saad Hariri, der nach Massenprotesten Ende Oktober zurückgetreten war. Diabs Regierung wird unter anderem von der Iran-treuen Hisbollah unterstützt, die im Libanon extrem mächtig ist. Wegen einer schweren Wirtschaftskrise und der Corona-Pandemie sind in seiner Amtszeit große Teile der libanesischen Bevölkerung in die Armut abgerutscht.

Die nächste Wahl stünde Libanon eigentlich erst 2022 an. Beobachter gehen jedoch davon aus, dass auch eine vorgezogene Neuwahl des Parlaments die Lage nicht beruhigen kann. Die Demonstranten verlangten bei den Protesten weitgehende politische Reformen.

Entsprechende Forderungen sind auch aus dem Ausland zu hören. So will der Internationale Währungsfonds (IWF) dem Libanon mit einem Rettungspaket helfen, verlangt dafür aber eine politische Einigung auf umfassende Reformen. Die Finanzorganisation sei bereit, ihre Bemühungen zu verdoppeln, sagte IWF-Chefin Kristalina Georgiewa.

Maas reist in den Libanon

Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) kündigte im Deutschlandfunk an, diesen Mittwoch in den Libanon zu reisen. Neben Soforthilfen, die bei einer Geberkonferenz am Sonntag gesammelt wurden, brauche das Krisenland darüber hinausgehende, längerfristige Unterstützung. Diese könne es aber nur geben, wenn auch Reformen eingeleitet würden, die seit langem angekündigt seien.

Deutschland und Europa seien bereit zu helfen, sagte Maas. "Wir werden aber auch sagen, dass wir der Auffassung sind, dass dieses Land reformiert werden muss, dass die Korruption beendet werden muss und dass alle weiteren Mittel, die es gibt, etwa aus Europa, sicherlich auch daran geknüpft werden." Neuwahlen seien nun "das Mindeste", was die Bevölkerung erwarten könne.

Der Iran warnte ausländische Staaten vor einer Einmischung im Libanon. "Die Explosion war ein großer und bitterer Vorfall und es ist daher verständlich, dass die Menschen aufgebracht sind und Konsequenzen fordern", sagte Außenamtssprecher Abbas Mussawi. Es gebe aber auch Anzeichen für Provokationen seitens ausländischer Staaten und Gruppen, die ihre eigenen illegitimen politischen Ziele im Libanon verfolgten. "Das ist inakzeptabel", sagte der Sprecher.

Internationale Pressestimmen zum Libanon

Internationale Tageszeitungen kommentieren die Entwicklung im Libanon nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut wie folgt:

Times (London):

"Um ein Land wiederzubeleben, das einst das intellektuelle und kommerzielle Herz der Region war und als die Schweiz des Nahen Ostens gerühmt wurde, ist eine internationale Anstrengung erforderlich. (...) Es wird jedoch schwierig sein, viele Regierungen zu bewegen, ihre Herzen und Brieftaschen zu öffnen. Insbesondere zu einer Zeit, in der sie mit der Coronavirus-Pandemie und deren verheerenden wirtschaftlichen Folgen zu kämpfen haben. Aber es könnte zu einem Mandat der Vereinten Nationen führen, vielleicht unter Leitung Frankreichs, um den Libanon wieder aufzubauen und - noch wichtiger - zu reformieren.

Geld würde dann erst nach der Bildung einer Regierung fließen, die ausschließlich gemäß technokratischer Kompetenz gebildet wurde. Die alten Lehensgüter der herrschenden Parteien würden hinweggefegt werden. Und eine internationale Aufsicht würde die Einhaltung von Gesetzen und Regeln gewährleisten. Die meisten Libanesen würden dies begrüßen, sofern sie es schaffen, sich aus dem unheilvollen Griff der Hisbollah zu befreien. Und mit der ihnen eigenen unternehmerischen Entschlossenheit und Zähigkeit könnten sie das Land am Ende wieder auf die Beine bringen und in Schwung bringen."

Tages-Anzeiger (Zürich):

"Neuwahlen werden nicht ausreichen, um die langjährige Krise zu beheben, die im kleinen Land an der Levante faktisch zum Staatsversagen geführt hat. Auch deshalb, weil die Bürger diesmal so wütend sind, dass sie die politische Elite am liebsten hängen sehen wollen. (...)

Der Sturz des Systems wirkt derzeit wie der einzige Ausweg aus der Misere. Das aber wirft die Frage auf, ob eine neue Zauberformel zu finden ist, die ein friedliches Zusammenleben garantiert. Das wäre schon in einem normalen Staat mit ähnlicher Bevölkerungszusammensetzung schwierig. Im Libanon aber kommt noch hinzu, dass die vom Iran kontrollierte Hisbollah-Miliz dem Staat das Gewaltmonopol streitig macht. Sie ist militärisch die stärkste Kraft im Land und auch im Parlament als Partei vertreten. Gegen ihren Willen geht im Libanon nichts. Gegen die Massenproteste im vergangenen Herbst schickte die Hisbollah gewalttätige Schlägertrupps - die Einschüchterung funktionierte."

Neuen Zürcher Zeitung:

"Das zentrale Problem bei den Parlamentswahlen ist ihre Vorbereitung. Damit sie frei und fair sind, braucht es unbedingt ein neues Wahlrecht. Die Wahlkreise sind derzeit so gezogen, dass ein Wahlsieg für neue und unabhängige Kräfte sehr schwierig ist. Im Prinzip brauchte es eine Übergangsregierung aus integren Persönlichkeiten, die die Wahlen vorbereiten könnten. Es ist aber fraglich, ob das Parlament und vor allem auch der Hisbollah einer solchen Lösung zustimmen würde. Die Gefahr ist groß, dass erneut ein monatelanges politisches Hickhack folgt, obwohl das gebeutelte Land nun eine starke Regierung braucht. Ohne eine stabile Führung werden sich vermutlich auch die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds hinziehen. Erneut geht Zeit verloren, die das hochverschuldete Land schon lange nicht mehr hat. Momentan können die notleidenden Menschen deshalb einzig auf die internationale Hilfe hoffen."

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