Sorge vor "Wespennest" Weißrussland: Presse zu Protesten in Belarus
Alexander Lukaschenko steht in Weißrussland vor dem Rücktritt. Die internationale Presse beleuchtete die Rolle der Demonstranten, eine mögliche Reaktion Russlands und die Folgen für die Region.
Minsk – Internationale Pressekommentare befassen sich am Dienstag mit der politischen Krise in Weißrussland (Belarus).
Die britische Times schreibt:
"Der Mut der Belarussen ist außergewöhnlich. Sie brauchen die Gewissheit, dass westliche Demokratien an ihrer Seite stehen und rasch Sanktionen gegen ihre Unterdrücker wieder in Kraft gesetzt werden – bis es echte Wahlen gibt. Die Tatsache, dass die Reaktionsmöglichkeiten des Westens begrenzt sind, sollte nicht als Entschuldigung für politische Passivität herhalten. Es besteht zwar die Gefahr, dass Wladimir Putin in der Instabilität von Belarus einen Vorwand für eine russische Intervention sieht. Doch dieses Kalkül darf nicht dazu führen, dass die westlichen Demokratien ihre Reaktionen zügeln. Je isolierter Lukaschenko erscheint, desto weniger glaubwürdig wären russische Bemühungen, ihn zu stützen."
De Standaard (Brüssel):
"Kann Brüssel den Oppositionellen helfen, Diktator Alexander Lukaschenko aus dem Sattel zu heben? Falls ja, wie soll das konkret geschehen? Welche Vorsorge muss getroffen werden, um zu vermeiden, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin vor den Kopf gestoßen fühlt? Moskau hat vielschichtige Beziehungen mit Minsk. Und es hat erklärt, bereit zu sein, 'die Probleme zu lösen' – was immer das bedeuten mag. Und welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund die NATO und die Vereinigten Staaten? (...)
Weißrussland droht, ein problematisches Wespennest zu werden, bei dem behutsames Manövrieren geboten ist. Doch die Lage ist derart eskaliert, dass eine Fortsetzung des Lukaschenko-Regimes kaum noch zu verteidigen wäre. Die Aufgabe der EU-Regierungschefs ist schwierig, aber die europäischen Werte bieten eine klare Richtschnur: Demokratie fördern und Blutvergießen vermeiden. Wegschauen ist keine Option."
📽️ Video | Adrowitzer (ORF) zur Lage in Weißrussland:
Tages-Anzeiger (Zürich):
"Er werde das Land nicht aufgeben, bis in den Tod, hat Lukaschenko gesagt. Gut, dass selbst seine vermeintlichen Anhänger ihn nicht mehr ernst nehmen. Da ruft ein Diktator verzweifelt um Hilfe, und niemand wird kommen. Auch Moskau hält sich dieses Mal raus. Lukaschenko bleibt nur der Rücktritt. Die Frage ist, wann er das einsieht. Und wie viel Leid er vorher noch anrichtet.
Lukaschenko steht nun allein da. Er hat Putin in den vergangenen Tagen alle Reizworte hingeworfen, die ihm einfallen konnten, hat von NATO-Truppen an der weißrussischen Grenze gefaselt und vor einer neuen 'Farbrevolution' gewarnt. Aber Weißrussland ist in Putins Augen anders. Die Opposition dort ist nicht klar antirussisch. Dort sieht Putin eine Bevölkerung, die Russland gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt ist. Auf Lukaschenko kann er verzichten. Auf seinen Einfluss in Weißrussland aber nicht."
Nepszava (Budapest):
"Der Diktator ist unfähig zu begreifen, dass er das Vertrauen der Menschen verloren hat. Die Hunderttausende, die gegen sein Regime demonstriert haben, sind für ihn vom Ausland gesteuerte und bezahlte Agenten. Vielleicht droht Lukaschenko nicht das Schicksal des früheren rumänischen 'Conducators' Nicolae Ceausescu, der nach seinem Sturz 1989 eilig hingerichtet wurde - doch gibt es jetzt kein Zurück.
Die hunderttausenden Demonstranten haben verlangt, dass er für alle Verbrechen, die er an seinem Volk verübt hat, vom Tribunal in Den Haag zur Verantwortung gezogen werden möge. Für die Einschüchterung, den Terror, die Erniedrigung. Lukaschenko kann seinen eigenen bewaffneten Kräften nicht mehr vertrauen. Die Armee wird sich nicht gegen die Menschen richten, die Polizei auch nicht. Nur die Verbrecher der OMON-Sondereinheit stehen hinter ihm. Aber auch sie treibt nicht Treue zum Regime an. Vielmehr wissen sie ganz genau, welches Schicksal ihnen im Fall eines Regimewechsels blüht."
Kommersant (Moskau):
"Lukaschenko hat seine erfolgloseste Rede in 26 Jahren im Amt gehalten. Die streikenden Mitarbeiter der Fabrik haben ihm unbequeme Fragen zugeworfen und ihn ausgebuht. Und dann hat ihn auch noch das Staatsfernsehen im Stich gelassen. Der Streik in den staatlichen Kanälen hat für ihn zur unpassendsten Zeit begonnen. Es gibt ziemlich viele Beamte und Mitarbeiter in staatlichen Unternehmen, die die Opposition unterstützen wollen. Aber sie sind noch immer mit dem Druck der Behörden konfrontiert. Viele müssen innerhalb kurzer Zeit eine Entscheidung treffen: wollen sie zur Arbeit zurückkehren oder eine Entlassung riskieren? Nicht immer gibt es im Kollektiv Einigkeit."
de Volkskrant (Amsterdam):
"Ein eventueller Sturz Alexander Lukaschenkos muss für Wladimir Putin nicht per se schlecht sein. Mit der belarussischen Opposition scheint er durchaus zusammenarbeiten zu können. Lukaschenkos wichtigste Gegnerin Swetlana Tichanowskaja verspricht Neuwahlen, will aber nicht selbst kandidieren. Ein neuer Urnengang würde Russland Zeit geben, um Beziehungen zu einem Nachfolger Lukaschenkos herzustellen.
Alle seine Herausforderer haben gesagt, dass sie die engen Beziehungen mit Russland aufrechterhalten wollen. Einer von ihnen ist gar nach Moskau geflohen, als Lukaschenkos Sicherheitsdienst ihn festnehmen wollte. Als Nachteil gilt freilich, dass die Oppositionspolitiker alle Befürworter der Demokratie sind. Putin möchte lieber keine Demokratie vor der Haustür, auf die seine eigene Bevölkerung neidisch werden könnte. Vorläufig scheint er sich alle Optionen offen zu halten."
Adevarul (Bukarest):
"Der Westen steht reglos, signalisiert eine Unterstützung für die Freiheit und für die Protestbewegungen, verurteilt Repression und Folter und erkennt die Ergebnisse einer Wahl, die weder frei noch korrekt war, nicht an. Er greift aber nicht direkt ein. Deswegen wartet Russland ab, wie es ausgehen wird, und zieht es vor, sich keine der Seiten zum Feind zu machen. Es ist ein hochriskantes Spiel. Das Risiko für Putins Russland besteht darin, dass die Straße gewinnt und die Proteste und das Modell Belarus in Russland nicht mehr so leicht bekämpft werden können wie jene in Tiflis und Kiew 2003 und 2005 – ja nicht einmal jene des Maidan in der Ukraine 2014."