Causa Nawalny: Moskauer Experten sehen Fehleinschätzung des Kreml
Die Moskauer Geheimdienstexperten Irina Borogan und Andrej Soldatow haben keine Zweifel an der Vergiftung von Alexej Nawalny mit einem Kampfstoff der Nowitschok-Gruppe und einer Verantwortung des Staates.
Moskau, Wien – Widersprüchliche Kommentare zur Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny zeugen von einer gewissen Panik unter russischen Bürokraten, erklärten die Moskauer Geheimdienstexperten Irina Borogan und Andrej Soldatow gegenüber der APA. Das Autorenpaar hält sich derzeit in Wien auf, um am Montag beim Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) ein aktuelles Buch zu präsentieren.
Auch Borogan und Soldatow, die sich mehr als 20 Jahren als investigative Journalisten mit russischen Geheimdiensten beschäftigen, haben keine Zweifel an der Vergiftung von Alexej Nawalny mit einem Kampfstoff der Nowitschok-Gruppe und einer Verantwortung des Staates. "Dieses Gift kann nur in Labors produziert werden, die sich unter strenger Kontrolle des Staates befinden", erklärte Borogan in einem Telefonat mit der APA. Die Verwendung von Nowitschok beweise somit, dass der Staat eine direkte Beziehung zu Vergiftung habe, betonte sie.
"Einheitliche Linie ist nicht zu erkennen"
"Die Inkonsistenz in den Kommentaren von offiziellen Vertretern Russlands zeugt von einer gewissen Panik. Denn eine einheitliche Linie ist nicht zu erkennen", ergänzte Soldatow und verwies auf einander widersprechende Äußerungen von Außenministerium und Auslandsgeheimdienst SWR. Während ersteres zuletzt erklärt hatte, dass Nowitschok nie in der Sowjetunion oder in Russland produziert worden sei, hatte Auslandsgeheimdienstchef Sergej Naryschkin betont, dass alle Nowitschok-Bestände zerstört worden seien.
Verwundert zeigten sich die Experten über jene Erklärungsversuche zur Causa Nawalny, die in einem Telefonat von Präsident Wladimir Putin mit seinem französischen Gegenüber Emmanuel Macron gefallen sein sollen. Putin soll laut der Tageszeitung Le Monde unter anderem die Möglichkeit in den Raum gestellt haben, dass sich Nawalny selbst vergiftet habe. "Ja, das war sehr eigenartig, die aus dem russischen Staatsfernsehen bekannte irrationalen Logik nun auch beim Präsidenten zu hören", kommentierte Borogan.
Ihr Partner Soldatow sah dieses Gespräch vor allem im Zusammenhang mit Putins Sozialisierung im KGB, aus dem dieser die Angewohnheit zu lügen und zu betrügen in die Politik mitgenommen habe. Aus europäischer Perspektive sei es zwar gewöhnlich, in öffentlichen Auftritten zu lügen oder nicht alles zu sagen, erläuterte Soldatow. "Aber gleichzeitig geht man davon aus, dass zwei Staatschefs in einem persönlichen Gespräch einander nicht die Unwahrheit sagen. Putin scheint das jedoch anders zu sehen", sagte er.
Soldatow ortet Fehleinschätzung des Kreml
Im Hintergrund von Nawalnys Vergiftung, aber auch von anderen spektakulären Fällen ortete Soldatow eine "permanente Fehleinschätzung" des Kreml in Bezug auf globale Veränderungen. "Weil sie nicht verstehen, welche Folgen es geben könnte, kommt es immer wieder zu abenteuerlichen Aktionen", erklärte er. 2016 sei Putin etwa überzeugt gewesen, dass es nicht möglich sein würde, jene russische Hacker zu identifizieren, die sich in den US-amerikanischen Wahlkampf eingeschaltet hatten. Als der ehemalige russische Geheimdienstler Sergej Skripal und seine Tochter 2018 in Großbritannien vergiftet wurden, seien russische Bürokraten von einer Reaktion wie bei der Vergiftung Aleksandr Litwinenkos 2006 ausgegangen, schilderte er. Und aktuell sei es durchaus möglich, dass diese Bürokraten die Causa Nawalny als ein innere Angelegenheit Russlands sahen, die niemand großartig aufregen würde.
Das Interesse für die russische Emigration, das zu ihrem aktuellen Buch "The Compatriots: The Brutal and Chaotic History of Russia's Exiles, Émigrés, and Agents Abroad" (Die Landsleute: Die brutale und chaotische Geschichte von Russlands Exilierten, Emigranten und Auslandsagenten") erklärten Borogan und Soldatow mit der politischen Bedeutung dieses Themas. "Es gibt eine von vielen Vertretern des Geheimdiensts geteilte Vorstellung, dass die Revolution von 1917 deshalb passierte, weil eine kleine Gruppe von Emigranten mit Unterstützung des deutschen Generalstab nach Russland zurückkehrte und das mächtige Zarenreich mit einer mächtigen Geheimpolizei stürzte", erzählte Soldatow. Der 1. Weltkrieg, der auch zum Ende von drei weiteren Imperien führte, sei dabei in Russland traditionell nicht als Faktor berücksichtigt worden, erklärte er. Deshalb habe es in der Sowjetunion, aber auch bei Wladimir Putin die Vorstellung gegeben, dass Emigranten das Regime in Moskau stürzen könnten.
Die symbolische Versöhnung mit der russischen Emigration, die 2007 in der Wiedervereinigung der Russischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats mit der Russische Orthodoxe Kirche im Ausland gipfelte, sei daher auch ein persönliches Projekt von Putin gewesen, schilderte Borogan. "Aus seiner Sicht darf es abgesehen von Putins Russland kein anderes Russland geben, das als Alternative zu seinen Vorstellungen verstanden werden und damit gefährlich sein könnte", sagte sie.
Intensiv beschäftigt sich das Autorenpaar in ihrem Buch aber auch mit russischen Spionen im Ausland. Insbesondere gehen sie auf den Fall des in den USA lebenden Überläufers Nikolaj Artamonow ein, den sowjetische Geheimdienste 1975 nach Wien lockten und hier entführten. Während seines Transports in die CSSR starb er. "Für uns war das eine sehr wichtige Geschichte: Die Methoden, die sowjetische Geheimdienste in der Stalin-Zeit anwendeten, verschwanden auch nach Stalins Tod nicht", erklärte Soldatow. (APA)