Flüchtlings-Zustrom auf die Kanaren reißt nicht ab
Die Mittelmeerroute nach Europa ist dicht. Jetzt probieren es immer mehr afrikanische Bootsflüchtlinge über die gefährliche Atlantikroute auf die Kanaren.
Gran Canaria – Über 2200 Menschen fand die spanische Seenotrettung am Wochenende vor der Küste Gran Canarias in kleinen Holzbooten treiben. Sie stammen aus Marokko, dem Senegal und Mali. Aday Gonzalez und sein Team vom Roten Kreuz nehmen die afrikanischen Bootsflüchtlinge in der Hafenmole von Arguineguin in Empfang.
Zunächst werden Personen mit Verletzungen und gesundheitlichen Problemen versorgt. "Einige haben kleinere Schnittwunden und Verbrennungen. Andere leiden unter Sonnenstichen, starker Dehydrierung und Unterkühlung", erklärt Gonzalez, Flüchtlingsverantwortlicher des Roten Kreuzes auf Gran Canaria. Nach einem kurzen Gesundheitscheck werden die Migranten auf SARS-CoV-2 getestet. Dann können sie erst einmal duschen. Die freiwilligen Helfer des Roten Kreuzes versorgen die Geflüchteten mit trockener Kleidung und etwas zu Essen.
Das Problem: „Ich weiß einfach nicht, wo ich die ganzen Menschen noch unterbringen soll", sagt Gonzalez. Das provisorische Flüchtlingslager auf der schmalen Hafenmole in Arguineguin ist nur für knapp 500 Personen ausgelegt. Doch aktuell sind weit über 1500 Menschen. Die zehn Zelte des Roten Kreuzes sind vollkommen überfüllt. Feldbetten gibt es nicht. Hunderte Flüchtlinge müssen auf dem harten Steinboden unter freiem Himmel schlafen. Zumindest erhält jeder Wolldecken, die tagsüber auch als Schutz vor der Sonne dienen. Neben den Zelten stehen ein paar Duschen und Dixi-Klos. Zu Essen gibt es nur Wasser und belegte Brote.
So müssen die Migranten hier tagelang ausharren, bis die Corona-Testergebnisse vorliegen. Erst dann können sie in andere Zentren verlegt werden, die ebenfalls vollkommen überfüllt sind. Über 2000 Bootsflüchtlinge wurden bereits in nahen Hotels untergebracht, die wegen der Coronakrise derzeit leer stehen.
Sanitäre Verhältnisse im Flüchtlingscamp katastrophal
"So geht es nicht weiter. Spanien und Europa müssen aktiv werden, sonst werden die Kanaren ein zweites Lesbos", versichert Onalia Bueno. Die Bürgermeisterin von Arguineguin nennt das Flüchtlingsaufnahmelager im APA-Gespräch schlichtweg ein "Camp der Schande". Die sanitären Verhältnisse seien katastrophal, menschenverachtend und einem europäischen Land wie Spanien nicht würdig. Auch Human Rights Watch (HRW) kritisierte Anfang der Woche die unmenschlichen Zustände im Flüchtlingscamp.
Die spanische Zentralregierung in Madrid scheint sich der Lage bewusst zu sein. Das Camp ist weiträumig abgesperrt. Selbst Journalisten dürfen sich nicht nähern. Unterdessen fühlt sich die Inselregierung im Stich gelassen und von der aktuellen Flüchtlingswelle vollkommen überfordert. Zwar versprach Spaniens Innenminister vergangene Woche nach einem Besuch auf Gran Canaria, die Insel entlasten und Flüchtlinge aufs Festland holen zu wollen. Geschehen ist seitdem aber wenig.
Mehr als 14.500 Migranten in diesem Jahr
Und es kommen täglich mehr Bootsflüchtlinge. Über 14.500 Migranten machten sich in diesem Jahr bereits von der Küste Westafrikas zu den knapp 100 Kilometern entfernten Kanaren auf – neun Mal mehr als im vergangenen Jahr. Die meisten landen auf Gran Canaria, aber auch auf den Nachbarinseln Teneriffa, Fuerteventura und Lanzarote. Sie starten vor allem im südlichen Marokko, aber auch von den Stränden Mauretaniens und Senegals, die über 1600 Kilometer entfernt sind. Bis zu 12 Tage kann die Überfahrt dauern.
Da die Mittelmeerrouten nach Europa relativ dicht sind, wählen immer mehr Flüchtlinge die lange und gefährlichere Route zu den spanischen Urlaubsinseln im Atlantik, versichert Jose Maria Santana von der spanischen Flüchtlingshilfsorganisation CEAR. "Zudem haben viele westafrikanische Länder wegen der Corona-Pandemie die Flüchtlings-Rückführungsabkommen mit der Europäischen Union ausgesetzt. Diesen Moment wollen viele Migranten nutzen", so Santana.
Viele nehmen die Gefahr der Überfahrt auf sich
Von der Gefahr der Überfahrt wissen die meisten nichts. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) stirbt auf der Atlantikroute zu den Kanaren jeder 16 Flüchtling. Im östlichen Mittelmeer auf dem Weg nach Griechenland schafft es nur einer von 120 Bootsflüchtlingen nicht. "Viele nehmen die Gefahr aber auch auf sich. Denn die meisten suchen keine bessere Zukunft, sondern überhaupt eine Zukunft", erklärt Santana.
Unterdessen führt die nicht abreißende Flüchtlingsbewegung auf die Kanaren bereits zu Bürgerprotesten und sozialen Unruhen. "Wir leben hier vom Tourismus. Die Corona-Pandemie trifft uns hart. Wenn jetzt noch mehr Urlauber wegen der Flüchtlingskrise wegbleiben, wäre das eine Katastrophe", meint auch Ricardo Ortega, dessen Fischerverband von Arguineguin vergangene Woche zum Protestmarsch aufrief.
Dabei wollen die wenigsten afrikanischen Bootsflüchtlinge überhaupt auf den Kanaren bleiben, da sie hier ohne Papiere weder arbeiten dürfen noch Jobs finden. "Ich will nach Frankreich weiter. Dort habe ich einen Bekannten", erzählt Daouda. Der 23 Jahre alte Senegalese aus Saint Louis landete bereits vor vier Monaten auf Gran Canaria. An seinem Handgelenk trägt er ein blaues Bändchen eines All-Inclusive-Hotels. Die ganze Großfamilie hat zusammengelegt, damit er der Schlepperbande den 1.000 Euro teuren Sitzplatz in einem der Holzboote bezahlen konnte. Nun erwarten sie, dass er einen Job findet und Geld nach Hause schickt. "Aber hier gibt es keine Arbeit, keine Schule. Ich mache nichts außer essen, schlafen und Sport", erzählt Daouda verzweifelt.
Die spanische Regierung will die Migranten auf den Kanaren aber nicht so einfach in anderen europäischen Länder weiterziehen lassen. Antonio Morales, Regierungschef von Gran Canaria, sieht dahinter eine klare Strategie: "Die Kanaren sollen auf die Migranten wie Lampedusa und Lesbos wie eine Gefängnisinsel wirken, damit sie nicht mehr kommen". (APA)