Rundschau

Pressestimmen zu Afghanistan-Abzug: „USA kriegsmüde", „Geschenk an Taliban"

US-Präsident Joe Biden kündigte am Mittwoch das Ende des Afghanistan-Einsatzes der USA an und besuchte den Soldatenfriedhof für Afghanistan-Veteranen.
© BRENDAN SMIALOWSKI

Nach 20 Jahren steht der US-Einsatz in Afghanistan vor dem Ende. Die internationale Presse kommentierte den von Präsident Biden angekündigten Abzug umfangreich.

Washington, Kabul – US-Präsident Joe Biden kündigte den kompletten Truppenabzug der USA aus Afghanistan an. Dieser Schritt wurde international von Zeitungen kommentiert. Ein Auszug:

„Neue Zürcher Zeitung“:

„Mit der Lage in Afghanistan hat der Entscheid wenig zu tun. Die Zahl der zivilen Opfer steigt jeden Monat, die Taliban kontrollieren mittlerweile über die Hälfte des Landes, und die Gespräche zwischen den Aufständischen und der Regierung kommen nicht vom Fleck. Ausschlaggebend für Präsident Biden waren die Befindlichkeiten an der Heimfront. Die Amerikaner sind kriegsmüde, und Afghanistan hat für sie keine strategische Priorität mehr, seit Al-Kaida weitgehend von dort vertrieben worden ist. (...)

Es ist zu befürchten, dass mit der Rückkehr der Truppen auch das politische Interesse an Afghanistan schrumpft. Amerikaner und Europäer müssten jetzt aber erst recht ihre Bemühungen verstärken und den Friedensprozess mit großzügigen finanziellen Anreizen am Leben erhalten. Afghanistan ist von internationaler Hilfe abhängig. Das wissen alle Beteiligten, auch die Taliban. Die Islamisten wollen auch keinem Paria-Staat mehr vorstehen wie nach ihrer Machtübernahme 1996. Sie wollen international anerkannt werden. Das heißt, es gäbe durchaus noch Raum für Verhandlungen.“

📽 Video | US-Truppenrückzug aus Afghanistan

„Tages-Anzeiger“ (Zürich):

„Aus amerikanischer Sicht ist dieser Entscheid – gerade mit Blick auf die Erfahrung in Vietnam – nachvollziehbar. Die Ankündigung des bedingungslosen Abzugs ist aber gleichzeitig ein Geschenk an die Taliban. Die Steinzeitislamisten haben sich nie ernsthaft um ein Friedensabkommen mit der Regierung in Kabul bemüht. Noch haben sie mit ihren Terrorfreunden von Al-Kaida gebrochen. Beides war eigentlich in jenem Abkommen vereinbart worden, das die Regierung Trump mit den Taliban vor einem Jahr in Doha ausgehandelt hatte.

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Bidens Entscheid ermöglicht seiner Regierung, amerikanische Leben zu retten und Geld zu sparen. Geld, das der Präsident für seine gigantischen Infrastrukturprojekte im eigenen Land ausgeben möchte. Gleichzeitig droht Afghanistan die Rückkehr auf Feld eins, auf dem das Land mit seinen 39 Millionen Einwohnern 2001 stand.(...)

Der Fall von Kabul könnte nach dem Abzug der Amerikaner noch hässlicher werden als jener der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon 1975.“

„de Volkskrant“ (Amsterdam):

„Nach der desaströsen Intervention im Irak und dem gigantischen, aber gescheiterten Versuch, Afghanistan aus den Fängen der Taliban zu befreien, wird sich Amerika in absehbarer Zeit nicht mehr auf solche Abenteuer einlassen. Die Bedrohung durch den Terrorismus wird eher aus der Luft als mit amerikanischen Bodentruppen bekämpft werden, wenngleich es bereits heftige Kritik an Bidens Entscheidung gab, „wegzugehen, bevor der Feind besiegt ist“.

Für die Europäer ist die Situation noch komplizierter. Eine Flucht ist unmöglich, denn die instabilen Regionen, in denen die USA ihren militärischen Fußabdruck verkleinern wollen, sind unsere ‚Nachbarn‘. Aber eigenständiges Auftreten, zumindest in Afghanistan, ist für die Europäer auch nicht möglich – dazu fehlen ihnen die militärischen Kapazitäten.“

„Dagens Nyheter“ (Stockholm):

„Niemand übersieht die Symbolik darin, dass die letzten US-Soldaten nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan am 11. September zu Hause sein sollen. Für Joe Biden ist das konsequent. Er steht dem Krieg seit langem skeptisch gegenüber. Zudem haben zwei Jahrzehnte, 2400 gefallene US-Soldaten und 2000 Milliarden Dollar keinerlei Frieden in Afghanistan geschaffen. Fortschritte gibt es dagegen beispielsweise bei der Meinungsfreiheit und den Rechten von Frauen. Aber die Demokratie ist eine Fassade, hinter der Korruption herrscht. Die Taliban haben niemals aufgegeben, sondern im Gegenteil Stück für Stück Gebiete erobert. Die westliche Welt hatte Afghanistan nach der sowjetischen Besatzung Ende der 80er Jahre aufgegeben. Das Resultat war das Todesreich der Taliban. Wenn Streitkräfte von USA und NATO nun das Land verlassen, müssen neue Mittel der Unterstützung und des Aufbaus gesucht werden. Ansonsten wartet noch ein Teufelskreis.“

„Le Figaro“ (Paris):

„Die (US-)Amerikaner gehen, ohne Bedingungen zu stellen (...). Die Taliban haben ihrerseits die Versprechen nicht gehalten, die sie dem (früheren US-Präsidenten Donald) Trump gegeben hatten, sich von (der Terrormiliz) Al-Kaida loszusagen und mit gewählten Machthabern eine Macht-Verteilung zu verhandeln. Der US-Generalstabschef warnt davor, dass sie nicht lange warten werden, um das Land wieder unter ihre Kontrolle zu bringen und die Menschenrechte – und erst recht die der Frauen – zurück ‚in die Steinzeit‘ zu bringen, sobald sie die westlichen Streitkräfte losgeworden sind.

Diese Niederlage, die auch die unsere ist (...) bereitet den nächsten Krieg in Afghanistan vor. (...) Wenigstens sollte der Westen jetzt für eine gewisse Zeit von dem naiven Traum geheilt sein, die Demokratie exportieren zu können.“

„La Repubblica“ (Rom):

„US-Präsident Joe Biden sagt, dass diese Strategie, die die Vereinigten Staaten zwei Billionen Dollar und 2000 Todesfälle kostete und auch ein schwerer Tribut für die NATO war, keinen Sinn mehr hat. Nicht nur, weil es andere strategische Bedrohungen gibt, mit China und Russland an erster Stelle. Aber auch, weil sich eine neue Phase im Kampf gegen den jihadistischen Terrorismus eröffnet: geografisch umfangreicher, ohne Grenzen, militärisch flotter und flexibler und bei der man fähig sein muss, bei Bedarf schneller einzugreifen. Was von Al-Kaida und ihren Ablegern oder von der Terrormiliz ‚Islamischer Staat‘ übrig bleibt, ist zwischen Asien und Afrika verstreut und birgt neue Herausforderungen, die mit traditionellen Armeen und klassischen Kriegen nicht zu bewältigen sind. Joe Biden ist davon schon seit einiger Zeit überzeugt.

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