"Nil" von Anna Baar: Ein uferloser Fortsetzungsroman
In „Nil“ erzählt Anna Baar vom Eigenleben des Erzählten und des Erzählens: doppelbödig, grausam, rigoros und bisweilen schlicht und ergreifend schön.
Von Joachim Leitner
Innsbruck – „Hochliterarisch“ hat der Verlag auf die Rückseite von Anna Baars neuem Roman „Nil“ geschrieben. Das kann auch als Warnung gelesen werden. Hier gibt es keine mundgerecht zugeschnittenen Satz-Häppchen. „Nil“ ist kein überbetreuter Text, der alles auf klar abgestecktem Terrain stattfinden lässt, der jedes Bild, jeden Gedanken und jede Idee in banalster Eindeutigkeit aus- und dreimal durchformuliert. Auch zum titelgebenden Nil findet „Nil“ auf eher auf Um- und Abwegen wegen: Ein Nilkrokodil taucht auf – und stiehlt sich davon. Ein aufblasbares Krokodil gibt es auch. Es wird von einer Küchenmesserklinge bedroht. Und dann ist da noch ein Mann namens Neal. Alle drei könnten erfunden sein, sind es ganz offensichtlich – und offensichtlich nicht. Und harmlos sind sie sowieso nicht.
Harmlos ist in „Nil“ nur die Ausgangssituation. Das erzählende Ich – eine Frau vielleicht oder doch ein Erzähler, der sich als „Erfinder“ versteht und Sobek heißt, „ich war es nicht“, jedenfalls sind seine oder ihre ersten Worte – schreibt Fortsetzungsgeschichten für ein „Frauenmagazin“. Die aktuelle überzeugt nur so halb – und soll auf Wunsch von oben zu einem Ende gebracht werden. Notfalls könnte das zentrale Pärchen ja sterben. Doch lässt sich einmal Erfundenes einfach aus der Welt schaffen?
Als Roman könnte „Nil“ beides sein: eine Fortsetzungsgeschichte ohne Ende oder die Geschichte hinter einer Geschichte, die sich nicht beenden lässt. Oder ist „Nil“ gar die Geschichte dieser Geschichte versteckt in einer ganz anderen Geschichte. Klar ist: Die Erzählung kippt ins Albtraumhafte, der Erzählfuss „Nil“ tritt bald über die Ufer, wird uferlos. Das Erzählen und das Erzählte bekommt ein Eigenleben, Ebenen verschieben sich, der Boden des Beglaubigten wird brüchig, entpuppt sich als doppelter. „Nil“ ist ein großes Spiel mit den Möglichkeiten des Erzählens. Und als Spiel will „Nil“ ernst genommen werden. Auch und gerade weil nie wirklich klar wird, was da wirklich gespielt wird.
Formal ist „Nil“ – im wahrsten Sinne des Wortes – unheimlich präzise gearbeitet. Anna Baar schreibt rhythmisch, greift gängige Sprachbilder auf, denkt sie weiter – und macht dadurch auch ihre Gemachtheit sicher. Nichts wird behauptet. Alles, jeder Satz, egal, ob gängige Floskel oder bemühtes Motiv, wird be- und hinterfragt. Ihre Formulierungen sind vordergründig schlicht und ergreifend schön. Und hinter dem Schönen wartet das Grausame. Bisweilen allerdings wirkt „Nil“ etwas überinstrumentiert. Doch selbst das hat Methode. Schließlich ist der- oder demjenigen, der hier „ich“ sagt, nicht zu trauen – und der Wahnsinn immer nur eineinhalb Zeilen entfernt.
Anna Baar, geboren 1973, in Zagreb und in Klagenfurt, Wien und auf der Insel Brac aufgewachsen, sorgte schon mit ihrem Debüt „Die Farben des Granatapfels“ (2015) für Aufsehen. Für ihren zweiten Roman „Als ob wir träumend gingen“ (2017) wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Mit „Nil“ ist ihr ein großer Wurf gelungen. Ein rigoroser Text, der es sich und seinen Leserinnen und Lesern nicht einfach macht. Ein – da verspricht der Verlag nicht zu viel – hochliterarisches Buch.
Wallstein, 148 Seiten, 20,60 Euro.