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Wer spricht Recht in der EU? Brüssel startet Verfahren gegen Berlin

Streitgegenstand ist ein Verfassungsurteil zur Europäischen Zentralbank vom Mai 2020.
© dapd

Vor einem Jahr setzte sich das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem Urteil zur EZB über den Europäischen Gerichtshof hinweg. Jetzt kommt das dicke Ende nach. Aber wie lässt sich der Konflikt lösen?

Brüssel – Der Vorwurf wiegt schwer: Die EU-Kommission sieht in Deutschland fundamentale Rechtsprinzipien der Europäischen Union verletzt. So begründete die Brüsseler Behörde am Mittwoch den Start eines förmlichen Verfahrens gegen die Bundesrepublik im Streit über ein Karlsruher Verfassungsurteil zur Europäischen Zentralbank vom Mai 2020. Ein spektakulärer Schritt, der etliche Fragen aufwirft.

Eine davon: Was soll dabei herauskommen? Welchen Sinn hat es, gegen die Bundesregierung vorzugehen, wenn es um das Urteil eines unabhängigen Gerichts geht? Eine andere: Warum jetzt, mehr als ein Jahr nach dem umstrittenen Spruch aus Karlsruhe? Und eine dritte: Ist in Wirklichkeit jemand ganz anderes gemeint?

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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte bereits im vergangenen Jahr großen Wirbel ausgelöst. Die Karlsruher Richter beanstandeten damals milliardenschwere Anleihekäufe im Rahmen des 2015 gestarteten Programms PSPP der Europäischen Zentralbank – obwohl der Europäische Gerichtshof diese vorher gebilligt hatte. Damit setzten sie sich erstmals über ein EuGH-Urteil hinweg, obwohl Entscheidungen des obersten EU-Gerichts für alle Mitgliedsstaaten verbindlich sind.

EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht

Das ist jetzt der Kern der Vorwürfe der EU-Kommission: Karlsruhe habe sowohl das EZB-Programm als auch das dazu gefällte EuGH-Urteil als „ultra vires“ qualifiziert – als Kompetenzüberschreitung. Damit habe das Bundesverfassungsgericht das Prinzip gebrochen, dass EU-Recht den Vorrang vor nationalem Recht habe.

Wenn das Schule mache, dann könnte das zu einem „Europa à la carte“ führen, sagte Kommissionssprecher Christian Wigand. Europäisches Recht müsse aber überall und für alle Bürger gleich angewandt werden. Dass die Kommission nun ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleitet, ist auch ein Signal: Selbst der mächtigste Mitgliedsstaat kann sich solche Alleingänge nicht leisten.

Auf den ersten Blick seltsam ist jetzt der Zeitpunkt. Denn die auch von Rechtsexperten als schwierig eingeschätzte Lage nach dem Karlsruher Urteil hatte sich eigentlich entspannt. Laut Urteil sollten Bundesregierung und Bundestag darauf hinwirken, dass die EZB nachträglich prüft, ob die Anleihekäufe verhältnismäßig waren. Das ist inzwischen erledigt, wie das Verfassungsgericht Ende April bestätigte. Man hätte den Konflikt also ruhen lassen können.

Polen oder Ungarn nutzen Urteil für sich

Aber das ging aus Sicht der EU-Kommission nicht, weil inzwischen andere das deutsche Urteil für sich nutzen. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte schon 2020 von einem „der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union“ gesprochen. Jetzt sucht er selbst den Konflikt mit dem EuGH.

Die Luxemburger Richter hatten Polen Ende Mai in einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Förderung von Braunkohle im Tagebau Turow zu stoppen. Doch Morawiecki widersprach. Man werde nicht die Energiesicherheit polnischer Bürger aufs Spiel setzen, „nur weil irgendwer im (Europäischen) Gerichtshof diese oder jene Entscheidung getroffen hat“, sagte der Regierungschef damals. Keine Entscheidung irgendeiner EU-Institution dürfe polnische Bürger Risiken aussetzen.

Da schimmert durch, worum es wirklich geht: nationale Befugnis gegen EU-Kompetenzen. Staaten wie Polen oder Ungarn fechten den Streit mit Brüssel seit Jahren aus. Nur ist er jetzt an einem zentralen Punkt angekommen, nämlich der Rechtsordnung der Europäischen Union. Aus Brüsseler Sicht geht es ans Eingemachte, was Kommissionschefin Ursula von der Leyen schon vor einem Jahr deutlich machte: „Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst.“

Aber zurück zum Vertragsverletzungsverfahren gegen Berlin. Regierungssprecher Steffen Seibert reagierte dort am Mittwoch schmallippig mit dem Satz, man werde sich die in dem Mahnschreiben geäußerten Bedenken genau anschauen und dann wie vorgesehen darauf schriftlich reagieren. Dafür hat Deutschland zwei Monate Zeit.

Wo liegt die Lösung?

Aber wo liegt die Lösung? Der Adressat des EU-Verfahrens ist die Bundesregierung, doch die kann dem Verfassungsgericht keine Vorschriften machen. Kommissionssprecher Wigand blieb vage. Man respektiere natürlich vollkommen die Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland. Aber: „Letztlich könnte eine Änderung in der Rechtsprechung in Deutschland oder ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs eine wichtige klärende Funktion in diesem Kontext haben.“ Gibt es keine gütliche Einigung, ist das wohl das Wahrscheinlichste: der nächste Fall für Luxemburg inklusive Streitpotenzial mit Karlsruhe. (dpa)

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