Kurz: Corona-Krise überstanden, aber „Ungeimpfte werden sich anstecken“
Bundeskanzler Sebastian Kurz sieht keine neuen Lockdowns. Der Staat werde sich zurückziehen, das Risiko werde privat.
Pürgg, Wien – Taumelt das Land in einen zweiten Sommer trügerischer Unbekümmertheit? Folgt abermals ein böses Erwachen? Bundeskanzler Sebastian Kurz verneint im Gespräch mit den Chefredakteuren der Bundesländer-Tageszeitungen dieses Szenario. Er sieht vielmehr einen Wendepunkt in der Pandemiebekämpfung gekommen. „Die Krise redimensioniert sich. Sie wandelt sich von einer akuten gesamtgesellschaftlichen Herausforderung zu einem individuellen medizinischen Problem“, so der Regierungschef bei dem gemeinsamen Video-Gespräch. Dieses „medizinische Problem“ betreffe jeden, der aus freiem Willen nicht geimpft sei. Es werde nicht mehr auf der Beziehungsebene zwischen dem Einzelnen und dem interventionistischen Staat bewältigt, sondern auf der Ebene der Eigenverantwortung – „zwischen dem Betroffenen und dem jeweiligen Arzt“. Kurz: „Der Staat hat die letzten eineinhalb Jahre massiv in das Leben jedes Einzelnen eingegriffen, er muss sich jetzt wieder auf seine Kernaufgaben zurückziehen.“
Die Lage im zweiten Sommer der Pandemie sei mit dem vorjährigen in keiner Weise mehr vergleichbar, so der Kanzler. „Da vergleicht man Äpfel mit Birnen.“ Der Impffortschritt, die FFP2-Masken und die Erfordernis für Corona-Tests hätten eine völlig andere Gefahrenlage zur Folge. „Fünfeinhalb Millionen in Österreich sind geimpft, darunter 90 Prozent der über Achtzigjährigen, also der am meisten Gefährdeten. Bald werden auch fast alle über 65 immunisiert sein.“ Das erlaube eine neue Einordnung der Pandemie-Krise.
Individuelles Risiko und Eigenverantwortung
Diese Einsicht und Neuvermessung bedeute freilich nicht, dass die Krise vorüber sei. „Die saisonale Abhängigkeit ist größer als von den Experten ursprünglich angenommen. Die Wellen werden kommen wie die Wellen im Meer, aber ihre Bedrohung wird nicht mehr das Kollektiv der Gesellschaft erfassen wie im letzten Jahr und Furcht verbreiten“, so der Kanzler. Betroffen würden in erster Linie die Ungeschützten sein. Unter ihnen werde das mutierte Virus ungehindert zirkulieren, das werde man all jenen, die eine Schutzimpfung ablehnen, offen kommunizieren müssen. Kurz: „Wir werden ihnen sagen müssen, ihr werdet euch früher oder später anstecken und ihr werdet erkranken können. Macht euch das bitte bewusst!“
Die Pandemie, die kein Risiko mehr für die Aufnahmefähigkeit der Spitäler sei, werde somit dem individuellen Risiko und der Vernunft überantwortet, so der Bundeskanzler. „Wir sind eine liberale Demokratie. Es gibt das Recht, rechtskonform unvernünftig zu handeln.“ Man könne am Tag auch zehn Schnitzel essen, sieben Liter Wein trinken oder mit 140 Kilo die Felswand hinaufklettern, ohne dass der Staat unten steht und das Seil sichert.
Für besonders sensible Orte der Zusammenkunft wie Schulen oder Gesundheitseinrichtungen werde die Eigenverantwortung auch weiterhin an spezielle Sicherheitsstandards gekoppelt sein, so Kurz. Die Frage, ob die Regierung vom Ziel der Herdenimmunität Abstand genommen habe, wies der Kanzler zurück: „Ich habe dieses Ziel so nie formuliert.“ Er, Kurz, halte es auf Basis der Freiwilligkeit für unrealistisch und trügerisch. „Herdenimmunität ist keine Garantie, dass das Virus nicht mehr vorkommt.“ (va)