Die Bürgerschrecke am Berg: „Dada.Tirol.100.“ beim Stummen Schrei
Vor hundert Jahren brachten führende Dadaisten um Max Ernst und Tristan Tzara im Tiroler Oberland den Surrealismus auf den Weg. Beim Stummen Schrei wird nun daran erinnert.
Stumm – Im Sommer 1921 wurde in Tirol, vornehmlich in Tarrenz und Imst, ein Kapitel europäische Kunst- und Literaturgeschichte geschrieben. Die führenden Köpfe der Dada-Bewegung, die ab 1916 zunächst in Zürich, dann in Berlin, Paris und Köln dem menschenverachtenden Irrsinn der Welt höheren Unsinn entgegenhielten, trafen sich zur produktiven Sommerfrische im Oberland. Und erfanden die Bewegung, die Kunstproduktion und Kunstverständnis der folgenden Jahrzehnte nachhaltig verändern sollte, neu. Mit dem Programm „Dada.Tirol.100.“, das am Donnerstag beim Festival Stummer Schrei in Stumm zur Uraufführung kommt, erinnert der Rezitator und Pianist Florian Kaplick an die lange vergessene – und neuerlich vom Vergessen bedrohte – Episode. Die TT traf Kaplick zum Gespräch.
Warum fanden führende Vertreter der Dada-Bewegung im Sommer 1921 ausgerechnet in Tirol zusammen?
Florian Kaplick: Da gibt es mehrere Gründe. Zum einen war Tirol billig. Das ist die einfache Antwort. Aber es ist komplizierter. Max Ernst war der Erste, der hier ankam. Er wollte bergsteigen. In Köln hatte er gerade mit einer Ausstellung für Furore und einen Polizeieinsatz gesorgt. Auch in Paris waren seine Collagen gefragt. Aber während seine Arbeiten hindurften, war es ihm als Deutschen verboten. Er saß also in Tarrenz und schrieb Briefe. An frühere Weggefährten aus der Zürcher Dada-Zeit – und an andere Künstler, die erpicht darauf waren, ihn kennen zu lernen. So kamen nach und nach Hans Arp, Dada-Zampano Tristan Tzara, André Breton und Paul Éluard. Der kam mit seiner Frau Gala, die dann später Dalí heiratete. Auch und gerade in Liebesdingen ging es da ziemlich durcheinander.
Und was haben sie in Tirol außer Bergsteigen getan?
Kaplick: Die Berge waren sehr wichtig. Die Natur überhaupt. Das wird bei Dada gern übersehen, weil das Laute, Zerstörerische der Bewegung vieles überdeckt hat. Im vermeintlichen Unsinn von Dada gibt es einen versteckten Tiefsinn: Es geht auch darum, den Sinn im Sinnlosen zu entdecken. Da kommt die Natur ins Spiel. Ein Berg hat keinen Sinn. Er ist da. Eine Naturkatastrophe hat keinen Sinn. Sie ist einfach. Zur Katastrophe wird sie von Menschen erklärt. Daran haben die Dadaisten auch in Tirol gearbeitet – mit Texten, Bildern, mit Musik. So gesehen waren die beiden Tiroler Dada-Jahre konsequente und notwendige Fortführungen dessen, was in Zürich 1916 begann.
Dada begann als Angriff auf eine Kultur, die das Schlachten des Ersten Weltkriegs nicht verhindert hat.
Kaplick: Richtig. Der Gedanke war: Wenn das, was wir Kultur und Zivilisation nennen, in den Krieg führt, müssen wir alles, was war, in Frage stellen. Als Dada um 1919 mit Tzara nach Paris kam, änderten sich die Gewichtungen: Der Krieg war vorbei, das offen antibürgerliche Moment wurde deutlicher. Hugo Ball, einer der Gründungsväter von Dada, hat sich da schon in den Tessin zurückgezogen. Ihm war Dada zu kommerziell, zu laut geworden. In den Tiroler Bergen fand eine ähnliche Wendung statt, eine Wendung nach innen. Die Fragen wurden noch grundsätzlicher, existenzieller: Wenn alles, was ist, ohne Sinn ist, was bedeutet das für mich? Solche Fragen sind dem Bewusstsein nicht sofort zugänglich, sie lassen sich mit alltäglichen Instrumenten nicht beantworten. Deswegen muss man über das Reale hinausgehen. Die Tiroler Sommer waren für den Schritt vom Dadaismus zum Surrealismus maßgeblich.
Der Surrealismus wurde in Tarrenz erfunden?
Kaplick: Ein wichtiger Schritt wurde dort gemacht. Das in Tirol entstandene Manifest „Dada au grand air/Der Sängerkrieg in Tirol“ ist ein Schlüsseltext für den Übergang zum Surrealismus. Unmittelbar nach seinem Tirol-Aufenthalt im Sommer 1922 reiste Tzara zum Konstruktivistenkongress nach Weimar und hielt dort die Grabrede auf Dada.
Was planen Sie für Ihren Dada-Abend beim Stummen Schrei?
Kaplick: Im Grunde das, was es bei Dada in Tirol nicht gab. Anders als in Zürich oder anderen Städten gab es hier keine Soireen und öffentlichen Auftritte. Dabei will ich nachzeichnen, woher Dada kam – und wohin es ging. Das heißt, ich werde frühe Lautgedichte von Ball und Tzara vortragen, aber auch Arbeiten von Künstlern, die Dada weiterdachten. Friederike Mayröcker hat sich intensiv mit Dada beschäftigt, die ganze Wiener Gruppe, Artmann oder Jandl wären ohne Dada undenkbar. Joseph Beuys auch nicht. Auch der wäre heuer 100 geworden. Mehr noch, Beuys kam auf die Welt, als Max Ernst in Tirol ankam. Ein Zufall. Oder eben nicht. Deshalb wird auch Beuys eine Rolle spielen – und vielleicht auch sein in Filz gepacktes, also stummes Klavier. Wo wäre ein stummes Klavier besser aufgehoben als in Stumm?
Das Gespräch führte Joachim Leitner