Regierungskrise

Koalitionskrise mit Kanzler-Abgang: Eine Chronologie

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Die aktuelle Regierungskrise, die am Samstagabend im Rückzug von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) gipfelte, hat ihren Ursprung in Ermittlungen der Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wegen der Bestellung von FPÖ-Mann Peter Sidlo zum Casinos Austria-Finanzvorstand.

Wien – Diese Ermittlungen führten im August 2019 nach dem Ibiza-Video und dem Scheitern von Türkis-Blau zu Hausdurchsuchungen bei E-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und wenig später auch bei ÖBAG-Chef Thomas Schmid.

Schmid hatte zwar sein Handy vor der Sicherstellung durch die Ermittler zurückgesetzt sowie WhatsApp und andere Nachrichten gelöscht, aber die Ermittler konnten viele Chatnachrichten wieder herstellen. Das sagte Ibiza-Ermittler und IT-Experte Matthias Purkart von der WKStA vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss im Parlament im Juni 2020.

Die Auswertung dieser Daten hat schon einige für die ÖVP unangenehme Dinge zutage gefördert und nunmehr letzten Endes ÖVP-Obmann Kurz vorerst die Kanzlerschaft gekostet . Unter anderem kam heraus, dass die ÖVP die Kirche unter Druck gesetzt hatte, nachdem diese Kritik an der Flüchtlingspolitik der türkis-blauen Regierung geübt hatte. Kurz empfahl dem damaligen Generalsekretär im Finanzministerium, Thomas Schmid, der Kirche „Vollgas" zu geben. Steuerliche Begünstigungen der Religionsgemeinschaften sollten infrage gestellt werden.

Die Wiener Stadtzeitung Falter berichtet am vergangenen Freitag, dass Schmid 2017 auch die Wissenschafter des Instituts für Höhere Studien (IHS) für kritische Äußerungen zu den Steuerreform-Versprechungen der ÖVP im Wahlkampf bestrafen wollte. „Kocher bringe ich noch auf Linie. IHS vom BMF finanziert", soll Schmid an Kurz geschrieben haben.

Auch die vor dem Wochenende publik gewordene mutmaßliche Inseratenkorruption, die der von der WKStA angenommenen Verdachtslage zufolge von Kurz-Vertrauten mit dem Medienhaus Österreich angekurbelt worden sein soll, um Kurz den Rücken zu stärken, ist in Schmids Nachrichten dokumentiert. Die WKStA ermittelt in diesem Zusammenhang zufolge gegen Kurz, Schmid, engste Vertraute des Bundeskanzlers, Ex-ÖVP-Familienministerin und Meinungsforscherin Sophie Karmasin, eine weitere Meinungsforscherin und die Brüder Wolfgang und Helmuth Fellner vom Medienhaus Österreich.

Eine Chronologe der Ereignisse der letzten Tage:

  • 23. September:

Die WKStA beantragt beim Richter Hausdurchsuchungen u.a. im Bundeskanzleramt, im Finanzministerium, in der ÖVP-Zentrale und der Mediengruppe "Österreich".

  • 28. September:

ÖVP-Vize-Generalsekretärin Gabriela Schwarz gibt eine "Stellungnahme zu Medienanfragen zu angeblich weiteren Ermittlungsschritten gegen die ÖVP" ab. "Hausdurchsuchungen sind meiner Meinung nach völlig sinnlos und noch einmal, es ist auch nichts zu finden", sagt sie bei diesem Auftritt.

  • 29. September:

Der zuständige Richter genehmigt die Anordnung für die Hausdurchsuchungen.

  • 4. Oktober:

Die Genehmigung geht zurück an die Staatsanwaltschaft.

  • 5. Oktober:

Die Razzien der WKStA starten im Umfeld der Assistentin von Ex-ÖBAG-Chef Thomas Schmid.

Der türkise Ex-U-Ausschuss-Fraktionschef Andreas Hanger gibt eine Pressekonferenz und macht dort „linke Zellen" in der Korruptionsstaatsanwaltschaft aus und befürchtete Hausdurchsuchungen in der ÖVP.

  • 6. Oktober:

Im Bundeskanzleramt und Büros im Finanzministerium werden Razzien durchgeführt. Betroffen waren unter anderem Kanzlersprecher Johannes Frischmann, Kurz' Medienbeauftragter Gerald Fleischmann und Kurz-Berater Stefan Steiner.

ÖVP-Klubchef August Wöginger zeigt sich am Rande des Ministerrats empört. Er spricht von einer "Unzahl an falschen Behauptungen". Grünen-Klubchefin Sigrid Maurer erklärt knapp: „Wir haben vollstes Vertrauen in die Justiz. Wir werden sehen, wie es weitergeht."

Die Opposition fordert den Rücktritt von Kurz und beantragt geschlossen eine Sondersitzung des Parlaments.

Kurz nimmt in der „ZiB2" zu den Vorwürfen Stellung und weist sie vehement zurück.

  • 7. Oktober:

Die Grünen stellen die Handlungsfähigkeit des Kanzlers infrage. Parteichef Werner Kogler lädt alle Klubobleute zu Gesprächen ein.

Die Bundes-ÖVP schickt eine OTS aus, wonach sich alle Teilorganisationen hinter Kurz stellen.

Die Tiroler-ÖVP schickt eine OTS aus, wonach sich auch alle Landeshauptleute hinter Kurz stellen.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen empfängt Kurz, Kogler und SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Kurz sagt danach: „Wir stehen bereit, die Arbeit fortzusetzen."

Die Präsidiale des Nationalrats einigt sich darauf, die Sondersitzung am kommenden Dienstag abzuhalten. Die Opposition wird dort einen Misstrauensantrag gegen Kurz einbringen. Wie die Grünen abstimmen werden, ist noch unklar.

  • 8. Oktober:

Kogler startet Gespräche mit den Klubobleuten der Parlamentsparteien. Maurer legt vor dem Gespräch mit Rendi-Wagner nach und fordert die ÖVP auf, Kurz durch „eine untadelige Person" auszutauschen.

Van der Bellen empfängt die Parteichefs Herbert Kickl (FPÖ) und Beate Meinl-Reisinger (NEOS). In einem Statement an die Bevölkerung hält Van der Bellen fest, er werde keine Ratschläge erteilen, aber für Stabilität sorgen.

Am Abend tritt Kurz kurzfristig vor die Kameras und erklärt, weiter „handlungsfähig und handlungswillig" zu sein. Die gegen ihn gerichteten Vorwürfe seien „schlicht und einfach falsch". Bereitschaft, seinen Sessel zu räumen, signalisiert er nicht. Als „überzeugte Demokraten" werde die ÖVP aber selbstverständlich akzeptieren, wenn es andere Mehrheiten im Parlament gebe.

  • 9. Oktober:

Das Kanzleramt und der Grüne Klub waren untertags auf aus medialer Sicht auf Tauchstation, im Hintergrund waren aber Beratungen aller im Parlament vertretenen Parteien im Gang. Die Positionen der ÖVP und der Grünen scheinen einzementiert. Landwirtschaftsministerin und Kurz-Vertraute Elisabeth Köstinger rückt schließlich aus und warnt vor einem „Vier Parteien-Pakt mit Herbert Kickl". Das Land brauche Stabilität, das ÖVP-Regierungsteam unter Kanzler Kurz sei bereit, die Regierungszusammenarbeit mit den Grünen fortzusetzen.

Am Abend verdichten sich die Gerüchte, Kurz werde wieder vor die Kameras treten. Fast exakt 24 Stunden, nachdem er auf seiner Position als Regierungschef beharrt hatte, verkündet er dann, sich als Bundeskanzler zurückzuziehen und als Klubchef der ÖVP ins Parlament wechseln zu wollen. Parteichef will er bleiben. Als Kanzler nachfolgen soll ihm Außenminister Alexander Schallenberg. Die gegen ihn gerichteten Vorwürfe seien „falsch, und ich werde das auch aufklären können", bekräftigt Kurz. Die seit Tagen von der Politik und der interessierten Öffentlichkeit breit diskutierten Textnachrichten habe er „teilweise in der Hitze des Gefechts geschrieben". Er sei "eben auch nur ein Mensch mit Emotionen und Fehlern".

Zu seinen Beweggründen, vorerst auf die Kanzlerschaft zu verzichten, legt Kurz dar, es wäre „unverantwortlich", die Regierungsverantwortung einer Vier-Parteien-Koalition von Grünen, SPÖ, FPÖ und NEOS zu überlassen, das am Ende des Tages auf Gnaden von FPÖ-Obmann Herbert Kickl angewiesen wäre. Es gehe in so einer Situation nicht um persönliche Interessen, Parteiinteressen oder politische Taktik: „Mein Land ist mir wichtiger als meine Person." Um die Pattsituation aufzulösen, habe er sich entschieden, Platz zu machen: „Ich gebe zu, der Schritt ist kein leichter für mich."

Grünen-Chef Kogler begrüßt im Anschluss diesen Schritt und signalisiert in einem schriftlichen Statement, die Türkis-Grüne Koalition unter einem Kanzler Schallenberg möglicherweise fortsetzen zu wollen. Am Sonntag werde er das Gespräch mit dem als Kanzler vorgeschlagenen Schallenberg suchen. Die Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Sprecher der früheren ÖVP-Außenminister Ursula Plassnik und Michael Spindelegger, der nach dem ibizabedingten Platzen der türkis-blauen Koalition schon dem Übergangskabinett von Kanzlerin Brigitte Bierlein als Außenminister angehört hatte und unter Kanzler Kurz seinen Posten behielt, sei bisher sehr konstruktiv gewesen, betont Kogler. (APA)

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