Die unsichtbare Arbeit an perfekten Sätzen
Mit seinem ersten Roman „Madame Bovary“ riss Gustave Flaubert das Tor zur Moderne auf. Heute vor 200 Jahren wurde er geboren.
Innsbruck –Gustave Flaubert war bereits bekannt, bevor der Roman, auf dem diese Bekanntheit vornehmlich beruht, erscheinen konnte. Denn die Publikation von „Madame Bovary“ wollte erstritten werden. Nach Abdruck erster Auszüge in der Revue de Paris saß Flaubert mit dem Herausgeber und dem Drucker der Wochenzeitschrift vor Gericht. Weil schon das, was vom Roman bekannt war, „gegen Sittlichkeit und Religion“ verstoße. Der Vorladung vors Untersuchungsgericht im Dezember 1856 und dem Prozess im Jänner 1857 folgte Anfang Februar der Freispruch. Nicht zuletzt dank eines von der Tagespresse gefeierten Plädoyers des Verteidigers Jules Sénard, der nicht nur für Autor und Text das Wort ergriff, sondern auch für die von Flaubert ersonnene Ehebrecherin Emma Bovary.
Fünf Jahre hat Flaubert mit „Madame Bovary“ gerungen. Als der Roman erscheinen konnte, war er 35 Jahre alt. Ein gemachter Mann freilich war er schon davor. Gustave Flaubert, dessen Geburt am 12. Dezember 1821 sich heute zum 200. Mal jährt, kam aus gutem Hause. Er wuchs in einem Spital auf. War folglich mit Leid und Ende der Existenz vertraut. Sein Vater war ein weithin geachteter Arzt. Er starb früh genug, um seinen Nachkommen Liegenschaften und Leibrenten zu vererben. Gustave konnte es sich leisten, nicht vom Schreiben leben zu müssen. Er hätte es wohl auch nicht können. Selbst seine „Bovary“, die als Skandalon großes Interesse entfachte, hätte zum Leben, wie Flaubert es lebte, nicht gereicht. Das Privileg einer gut betuchten Herkunft ermöglichte es Flaubert, an seiner Kunst um der Kunst willen zu arbeiten. Den richterlichen Hinweis, sein Schreiben nach „Bovary“ in den Dienst der Moral zu stellen, ignorierte er. Das Geschäft mit dem Geschmack der Masse war ihm sowieso ein Gräuel, egal ob er in der „L’Éducation sentimental“ (1869, inzwischen von Elisabeth Edl als „Lehrjahre der Männlichkeit“ eingedeutscht) jugendlichen Ehrgeiz entzauberte oder in finalen, Fragment gebliebenen „Bouvard et Pécuchet“ (1881) den Glauben an Wissenschaft und Fortschritt.
Selbst als gegen Ende seines kurzen Lebens – Flaubert starb 1880 mit 58 Jahren –, als Geld und Güter knapp wurden, erzählte er weiter. Und Erzählen heißt bei Flaubert Entlarven von Illusionen. Aber ohne großen Gestus oder Lust an der Denunziation, in brillanter Prosa, an der er tagelang feilte – und der man das wohl gerade deshalb nicht anmerkte. Der Autor – schrieb er in einem seiner Briefe – müsse sein wie Gott in der Schöpfung: unsichtbar und doch allgegenwärtig. Die Konstruktion, die Motive, das Spiel mit Symbolen, Vorahnungen und Rückgriffen verschwinden in der Erzählung. Mit dieser „impersonnalité“, seinem „unpersönlichen“ Stil, mit dem, was die Erzählforschung erlebte Rede nennt, brachte Flaubert den modernen Roman auf den Weg. Er tat dies nicht zuletzt als Akt der Ablehnung dessen, was damals als modern galt. Das lässt sich in Michel Winocks nun auch auf Deutsch vorliegender, monumentaler, selbstbewusst-schlicht mit „Flaubert“ überschriebener Biografie (Hanser, 655 Seiten, 37,10 Euro) en detail nachlesen. Seine Gegenwart, ihre Banalitäten und Dummheiten, die geistige und gesellschaftliche Verwahrlosung, die Flucht in Posen und Phrasen verachtete Flaubert. Auch die zeichnet Biograph Winock – Politologe und Historiker – genau nach: Louis Philippes Bürgerkönigtum, das Kaiserreich des „kleinen Bonapartes“ (das Karl Marx über die Wiederholung historischer Tragödien als Farce philosophieren ließ), die bürgerlichen Revolten.
Flaubert war über Stand und Lauf der Dinge schon als Heranwachsender ernüchtert. Seit seinem neunten Lebensjahr schrieb er. Einiges, das nun anlässlich des runden Geburtstags ausgegraben wurde, liest sich erschreckend aktuell. Die frühe Erzählung „Bibliomanie“ (Insel, 68 Seiten, 9 Euro) zum Beispiel, die Flaubert mit 15 zu Papier brachte. Sie handelt von einem Analphabeten, der Bücher hortet. Er hat Zugang zum Wissen der Welt – und kann es nicht lesen. Heute kann man das Weltwissen immer und überall herbeigoogeln – und ist trotzdem keinen Schritt weiter. Flaubert lesen heißt, sich keine falschen Hoffnungen machen. Trotzdem: Desillusionierung war nie schöner als bei Flaubert. (jole)