Zersägte Tote im toten Winkel: Neues von Wolf Haas
In seinem neuen Brenner-Roman „Müll“ spielt Wolf Haas mit den Konventionen, Motiven und Klischees des Krimi-Genres – und führt vor, dass Recycling auch Neuerfindung sein kann.
Von Joachim Leitner
Innsbruck – Seit fast 30 Jahren läuft Simon Brenner immer wieder, wenn auch in immer größeren Abständen, Gefahr, in einigermaßen eigenwilligen Kriminalgeschichten verloren zu gehen. Obwohl er das Polizistendasein ja schon 1996 mit der „Auferstehung der Toten“ im Grunde aufgegeben hat. Danach hat der Brenner, bei dem man seit der Verfilmung von „Komm, süßer Tod“ (2000) und weiteren Brenner-Filmen unweigerlich einen etwas derangierten Josef Hader vor Augen hat, privat ermittelt (in „Der Knochenmann“ und „Silentium!“). Eine Zeit lang – in „Komm, süßer Tod“ eben – war der Brenner Sanitäter. Dann bemühte er sich um Frühpension („Wie die Tiere“), wurde von der eigenen Vergangenheit eingeholt („Das ewige Leben“) und fuhr – in „Der Brenner und der liebe Gott“ – als „Herr Simon“ Besserbetuchte durch die Gegend. In „Brennerova“, seinem bislang letzten „Fall“, war der Brenner irgendwie heiratswillig und hat irgendwann aufgegeben, das Rauchen aufgeben zu wollen. Das ist auch schon wieder gut sieben Jahre her.
Inzwischen buckelt Brenner auf einem städtischen Recycling-Hof in Wien. Und er raucht immer noch. Aber nicht daheim. Weil er über seine Verhältnisse wohnt – und die Wohnungsbesitzer nichts vom Wohnungsbesetzer mitkriegen sollen. Auch ungenutzter Leerstand ist eines der Verbrechen, das den Brenner umtreibt. Von einer Wohnung zur nächsten, wenn man so will.
Überhaupt ist „Müll“, Wolf Haas’ neuer Brenner-Roman, ein Buch über Verwertungsketten, deren legale Grauzonen und tote Winkel. Ab heute wird „Müll“ ausgeliefert. Und, um es gleich zu sagen – als Hommage an den Autor gewissermaßen, der auch das Vorwegnehmen von Informationen, deren inhaltliche und kompositorische Bedeutung sich erst später erschließt, zur großen Kunst veredelt hat: „Müll“ ist ein brillantes Buch – lustig, spannend, tragisch. Das liegt nicht nur an dem, was Haas erzählt, sondern – natürlich – auch am Wie. Denn nicht nur der Brenner ist wieder da, sondern auch sein Erzähler. Und der erzählt noch immer so wie einer, der sein Gegenüber nicht unbedingt gut, aber gut genug kennt fürs konspirative Du, das eine „furchtbare Geschichte“ – wie es eingangs heißt – einigermaßen erträglich macht. Dieses ganz eigene Verfahren mit ausgesparten Prädikaten und am Umgangssprachlichen orientierten Floskeln hat Haas schon mit seinem ersten Brenner-Krimi etabliert. Es hat selbst die Exekution des Erzählers in „Das ewige Leben“ überstanden, weil der Erzähler zwar erschossen, aber sein Maul nicht extra erschlagen wurden.
Trotzdem lässt sich in „Müll“ eine leichte Variation ausmachen: Diesmal liegt das Erzählte schon einige Jahre zurück, der Erzähler ruft es sich in einer ungefähren Zukunft in Erinnerung. Die Kernhandlung des Romans, das lässt sich mit etwas detektivischem Spürsinn und ziemlicher Sicherheit errechnen, spielt 2023. Was im Grunde egal ist. Außer man sucht in „Müll“ nach Hinweisen auf pandemische Zustände. Die findet freilich nur, wer das Aufkommen von privaten Lieferdiensten für eine geschäftstüchtige Reaktion auf verordnete Kontaktbeschränkungen hält.
In „Müll“ jedenfalls spielt ein solcher Dienstleister, der sein Tätigkeitsfeld ins Fadenscheinige erweitert hat, eine gewichtige Rolle. Und alles beginnt mit dem Versuch, eine säuberlich zersägte Leiche mittels Entrümpelungslieferung an den „Misthof“ zu entsorgen. Dass der Brenner die zu den Leichenteilen gehörende Bluttat binnen weniger Minuten aufklärt, ringt seinen Kollegen Respekt ab. Und auch seinen mit dem Fall betrauten Ex-Kollegen fällt keine plausiblere Erklärung für die Körperteile in den Müll-Wannen ein. Bis das Herz des Toten eben nicht in einer Wanne, sondern in einem Kühlschrank gefunden wird. Da dämmert dem Brenner, dass er es wohl oder übel mit einer wesentlich komplizierteren Geschichte zu tun hat. Weil in dieser Geschichte nicht jeder Mord wie Mord ausschaut – und nicht alles, was vordergründig „Mord“ schreit, auch Mord ist. Und inzwischen auch der „Misthof“-Praktikant tot ist. Der hatte quasi im Zweitberuf mit einer Festplatte zu tun, die eigentlich – man kennt das Prozedere inzwischen – gelöscht und geschreddert werden sollte.
Um die österreichische Politik, das muss an dieser Stelle wohl versichert werden, geht es in „Müll“ nicht. Aber um buchstäblich einschneidende Unterschiede zwischen der österreichischen und der deutschen Organspende-Gesetzgebung geht es. Und um die Idee, diesen Unterschied zu Geld zu machen. Weil Geld ein gutes Schmerzmittel ist. Und der Schritt in die Illegalität sogar Leben retten kann. Solange es keine Mitwisser gibt. Wie gesagt: Die Dinge sind kompliziert. Oder sie erscheinen jedenfalls so. Denn im Grunde, daraus macht der Erzähler keinen Hehl, ist die Geschichte zwar furchtbar, aber einfach.
Wolf Haas spielt nicht nur mit der Sprache, sondern auch mit den Konventionen, Motiven und Klischees des Krimi-Genres. Etwa in der Mitte des Buches verrät der Erzähler sogar die Lösung des zentralen Rätsels. Der Spannung tut das keinen Abbruch, weil sich Wolf Haas von den Orthodoxien des Whodunit schon verabschiedet hat, als der Brenner sich noch als Polizist verdingte – und nun mit „Müll“ einmal mehr kunstvoll vorführt, dass Recycling auch Weiterentwicklung sein kann oder – wenn man große Worte nicht scheut – Neuerfindung.
Kriminalroman Wolf Haas: Müll. Hoffmann und Campe, 286 Seiten, 24 Euro