Nehammer vor ÖVP-Parteitag: Auf der Suche nach den verlorenen Inhalten
Am Samstag wird Kanzler Karl Nehammer zum neuen ÖVP-Obmann gewählt. Die Regierungsumbildung ist abgeschlossen, jetzt geht es um Programmatik.
Wien – Seit knapp fünf Monaten ist Karl Nehammer Bundeskanzler und designierter ÖVP-Obmann. Am Samstag wird er offiziell zum Nachfolger von Sebastian Kurz als Parteichef gewählt. Im Kanzleramt angekommen, sah er sich in der Rolle des Krisenmanagers: Pandemie, Krieg in der Ukraine, Inflation und Teuerung. Der ausgebildete Kommunikationstrainer versuchte nach dem Sturz von Kurz, das schwer ramponierte Verhältnis zum grünen Koalitionspartner wieder auf eine halbwegs professionelle Ebene zu heben.
Doch am Samstag muss er den Delegierten am Parteitag einen Plan präsentieren. Wie will er die von Korruptionsskandalen schwer gezeichnete ÖVP konsolidieren, mitunter wieder auf eine Erfolgsspur bringen?
Nehammer gibt sich als „Lernender“. Vom kommunikativen Stil her setzt er sich bereits von seinem Vorgänger ab. Ihm geht es weniger um Inszenierung und Show. Im Gegensatz zu dem immer wieder freundlich-überheblich agierenden Kurz agiert Nehammer nüchterner. Die Handlungsanweisung für Kurz waren die Umfragen. Er drehte sich nach dem Wind, sah sich als politischer Wellenreiter. Kurz war ideologiebefreit. Er hatte für sich zwei Vorgaben: Richtig ist, was nützt, und: Der Zweck heiligt die Mittel.
Nehammer ist im Gegensatz zu Kurz mit der Parteigeschichte vertraut. Er nennt sich einen Christlich-Sozialen. Wenn man ihn nach seiner Grundhaltung fragt, dann nennt er der katholischen Soziallehre entsprechend drei Eckpfeiler seines politischen Fundaments: Personalität, Subsidiarität, Solidarität.
Nehammers Aufstieg ist jedoch unmittelbar mit dem Höhenflug der ÖVP unter Kurz in Zusammenhang zu bringen. Der ausgemusterte Leutnant ordnete sich als Generalsekretär und später als Innenminister den Vorgaben unter. Er rückte Kurz in das rechte Licht, war für eine harte Asylpolitik verantwortlich. Doch er gehörte nie zum innersten Kreis des damaligen Kanzlers.
Das könnte ihm helfen. Nehammer übernimmt eine Partei, die zwar noch den Kanzler stellt, eine Wahl aber scheut wie der Teufel das Weihwasser. Für den Umfragen-Absturz tragen Kurz und seine Weggefährten die Verantwortung. Mehrere aktive und Ex-Politiker sind mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Selbst die Partei wird von der Korruptionsstaatsanwaltschaft als Beschuldigte geführt.
Kann Nehammer hier einen Schlussstrich ziehen, kann und will er sich in dieser Frage von den Kurz-Jahren distanzieren? Ja, er könnte, aber bislang wollte er nicht. Anstatt klar und unmissverständlich zu erklären, dass er für Anstand (Chats!!!) und Aufklärung stehe, mauert Nehammer. An eine Aussprache mit oder gar eine Entschuldigung bei Kurz-Vorgänger Reinhold Mitterlehner denkt er nicht. Seine Ansage am Beginn seiner Kanzlerschaft – „Die ÖVP hat kein Korruptionsproblem“ – klebt an ihm bis heute. Und wenn man ihn danach fragt, wird er ungehalten. Doch es nützt nichts. Die ÖVP hat ein Korruptionsproblem. Seit 35 Jahren ist die ÖVP ohne Unterbrechung in der Regierungsverantwortung. Das hinterlässt Spuren.
Dies anzusprechen und daraus Konsequenzen zu ziehen, dazu war Nehammer bis heute nicht in der Lage. Er will es sich wohl mit den Kurzianern nicht verscherzen.
Allergisch reagiert er, wenn ihm unterstellt wird, unter seiner Obmannschaft könnte die ÖVP wieder alt werden – also die Bünde und die Länder den Kurs bestimmen und bei Personalfragen mitreden. Seine zu verantwortenden Regierungsumbildungen – von Martin Polaschek bis Norbert Totschnig – werden von seinem Gegnern hierfür als Beleg verwendet.
Natürlich will Nehammer versuchen, am Samstag der Partei seinen Stempel aufzudrücken. Doch kann Nehammer Programmatik? Ja, das kann er. Die Frage ist, ob er sich auch traut. Eine Debatte über die Neutralität würgte er ab. Dafür stieß er in seinen wirtschaftspolitischen Ansagen Unternehmer und Wirtschaftsbund vor dem Kopf.
Die ÖVP betonte in der Vergangenheit immerzu ihre Wirtschaftskompetenz. Doch Nehammers Ansage widerspricht dem Wirtschaftsliberalismus der Vergangenheit. Er stellt die alte Schüssel-Losung „weniger Staat, mehr privat“ in Frage, sprach sich bei Zufallsgewinnen für eine Gewinnabschöpfung bei teilstaatlichen Energieunternehmen aus – und hat damit einen Aktienabsturz in Milliardenhöhe ausgelöst. In der Bevölkerung bekam er Applaus.
Nehammer sieht seinen „linken Kurs“ wohl in Einklang mit der katholischen Soziallehre. Anders verhält es sich mit der Asylpolitik. Hier segelt er weiter auf dem harten Kurs, auch um die Flanke zur FPÖ abzusichern. Was wir noch nicht kennen, ist Nehammers Idee von der Zukunft Europas. Am Samstag dürften wir erfahren, ob die Suche nach den verlorenen Inhalten weitergeht.