Tiroler beim Song Contest in Turin: „Solidarität für die Ukraine ist auch sichtbar"
Ist der Ukraine der Sieg beim Eurovision Song Contest noch zu nehmen? Der Tiroler Robert Wild ist ESC-Fan der ersten Stunde und seit Jahren mittendrin statt nur dabei. Er erlebt den Musikzirkus gerade live vor Ort und hat seine Einschätzung mit uns geteilt. Ein konstanter Verlierer der letzten Jahre ist heuer jedenfalls vorne mit dabei.
Von Tamara Stocker
Innsbruck – Es hat nicht sollen sein. Zum dritten Mal in Folge muss ein Song Contest Finale ohne Österreich auskommen. Nach zwei Balladen ist am Dienstag auch die Partynummer „Halo" sang- und klanglos untergegangen – sehr zum Leidwesen der Interpreten und des ORF, die sich in diesem Jahr eigentlich gute Chancen ausgerechnet hatten, zumal das Lied im Vorfeld auf Spotify, TikTok und YouTube sehr gut performte.
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Nicht verpassen: Das große Finale am Samstag begleitet TT.com wie jedes Jahr im Live-Ticker! TT-Redakteurin Tamara Stocker kommentiert den musikalischen Trash-Stadl ab 21 Uhr gewohnt ungeniert aus der Ferne.
Aber der ESC ist eben nicht nur bloße Rechnerei. Nicht immer. Zwar sind Aufrufzahlen und Wettquoten ein guter Gradmesser. Am Ende ist es aber eben auch unberechenbar. So gab es auch in den beiden Semifinale einige überraschende Aufsteiger, die die Zocker nicht am Zettel hatten. Und eingefleischte ESC-Fans genauso wenig. „Ich hätte nie gedacht, dass Portugal und die Isländerinnen weiterkommen und Österreich nicht", zeigt sich Robert Wild im Gespräch mit der Tiroler Tageszeitung immer noch überrascht.
Seit zehn Jahren reist der Inzinger quer durch Europa, um bei jedem Song Contest live dabei zu sein. Begleitet wird er dabei von seinem Mann Patrick, und heuer erstmals auch von zwei Freunden aus Fulpmes. Schon seit Sonntag macht das Quartett Turin unsicher und ist bei allen Liveshows im Publikum mit dabei – „mitgefiebert" wird seit dem Ausscheiden Österreichs aber nur noch nur aufgrund der Hitzegrade.
„Leider spielt die Musik beim ESC manchmal mit"
Denn dass für Österreich wieder so früh Endstation ist, damit hätte er „wirklich nicht gerechnet". „In der Halle sind bei dem Auftritt alle so abgegangen", erinnert er sich an das 1. Halbfinale zurück, das er live im Pala Olimpico in Turin erlebt hat. So gar nicht überraschend war hingegen auch für ihn der Finaleinzug der Ukraine. Das von Russlands Krieg gebeutelte Land gilt schon seit Monaten als sicherer Siegeskandidat. Er persönlich sehe das mit gemischten Gefühlen: „Unter normalen Umständen wäre das Lied niemals auf Platz eins in den Quoten gelandet, es wäre vermutlich auch nicht ins Finale gekommen und wenn, irgendwo hinten gelandet", mutmaßt der ESC-Kenner. „Aber leider spielt die Politik beim ESC manchmal mit." Die Solidarität sei aber vor Ort in jedem Fall überall sichtbar. „Viele laufen hier mit einem Ukraine-Pin oder zwei Fahnen rum – jener ihres Landes und einer in Ukraine-Farben. Das fällt schon auf."
Für den Tiroler wäre auch ein zweiter Platz für die Ukraine schon ein „starkes Zeichen", demnach würde er sich im Sinne des musikalischen Wettbewerbs einen anderen Sieger wünschen. Sein Tipp? „Italien war eigentlich mein Favorit, aber die sind mittlerweile ein bisschen eingebildet geworden. Ich glaube aber trotzdem, dass die ,Big Five' heuer sehr gute Chancen haben, Großbritannien wäre cool."
📽️ Video | So klingt der Beitrag von der Ukraine
Votet Europa für Solidarität oder musikalische Qualität?
Tatsächlich sind die sogenannten „Big Five" heuer ungewöhnlich gut dabei. Gemeint sind jene Länder, die immer einen Fixplatz fürs Finale haben, da sie die größten Beitragszahler der EBU (European Broadcasting Union) sind und die meisten Zuschauer vor die Bildschirme bekommen: Großbritannien, Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland. Die Ironie dabei: Die meisten Anrufe können sie meist nicht lukrieren. Während Italien Jahr für Jahr sehr erfolgreich bilanzieren kann und auch Frankreich seit 2016 konstant weiter vorne mitspielt, teilen sich Großbritannien, Spanien und Deutschland meist die Rote Laterne.
Und wenn es nach den Buchmachern als Auguren des ESC geht, heißt es auch heuer wieder: Willst du Deutschland vorne sehen, musst du die Tabelle drehen. Malik Harris ist mit seinem Song „Rockstars" Erster von hinten, gefolgt von Rumänien, Litauen und der Schweiz. Großbritannien und Spanien hingegen sehen die Wettanbieter in den Top 5.
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Sollte die Abstimmung also heuer weniger nach Solidarität denn nach musikalischen Kriterien ausgehen, werden dem Briten Sam Ryder die größten Chancen eingeräumt. Mit seiner zwischen Falsett und Reibeisen pendelnden Nummer „Space Man" pendelt der TikTok-Star selbst aktuell zwischen Platz zwei und drei in den Wettquoten hin und her. Auch die Schwedin Cornelia Jakobs darf an der Tabellenspitze mit ihrem berührend-authentischen „Hold Me Closer" noch ein Wörtchen mitreden. Ob Italien mit dem Duo Mahmood & Blanco, das heuer mit dem ersten offen schwulen ESC-Liebesduett „Brividi" antritt, den Sieg aus dem Vorjahr wiederholen kann, darf indes trotz guter Aussichten auf einen Platz unter den Top 5 bezweifelt werden. Mahmood war übrigens 2019 schon einmal dabei und wurde Zweiter.
📽️ Video | So klingt der Beitrag von Großbritannien
Was passiert, wenn die Ukraine gewinnt?
Und möglicherweise bleibt es auch danach spannend. Sollte nämlich tatsächlich die Ukraine das Rennen machen, stellt sich unmittelbar die Frage, wo der 67. Eurovision Song Contest abgehalten wird. Im Interview mit österreichischen Medien zeigte sich Kalush-Flötist Tymofii Muzychuk zuversichtlich: „Wenn wir gewinnen, bin ich sicher, dass wir den Song Contest 2023 in einer unabhängigen, glücklichen Ukraine feiern können." Ob das die European Broadcasting Union angesichts der völlig offenen Weltlage im kommenden Jahr auch so sehen wird, bleibt abzuwarten. Ebenso wie das heutige Ergebnis.