Finnland: Zwei Jahrhunderte zwischen Ost und West
Finnland steht vor einer Wende in der Sicherheitspolitik. Das könnte das Ende eines langen und heiklen Weges als neutrales Land zwischen Ost und West sein.
Wien/Helsinki – Finnland steht vor einer vielfach als historisch bezeichneten Wende in seiner Sicherheitspolitik. Das Land im Norden Europas, das wegen seiner Bündnisfreiheit und seinem vormaligen neutralen Status immer wieder mit Österreich verglichen wurde, wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach der NATO anschließen. Es ist das vorläufige Ende eines langen und oft heiklen Weges zwischen Ost und West.
Bis 1809 war das Gebiet des heutigen Finnland integraler Bestandteil des Königreichs Schweden. Nach dessen Niederlage im Russisch-Schwedischen Krieg wurde Finnland als Großfürstentum Teil des russischen Zarenreiches. Als solches hatte es von Beginn an einen Sonderstatus. Schwedische Gesetze und ein Teil der schwedischen Verfassung galten weiterhin.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts versuchte Russland Finnlands Autonomie zu untergraben. Die Russifizierungsversuche unter Generalgouverneur Nikolai Bobrikow endeten mit dessen Ermordung im Jahr 1904. Zwei Jahre später erhielt Finnland ein modernes Einkammerparlament. Finnland musste keine Soldaten für die Zarenarmee stellen. Im Ersten Weltkrieg kämpften finnische Freiwillige sowohl auf russischer als auch auf deutscher Seite.
Unabhängigkeit 1917 erklärt
Als Folge der russischen Oktoberrevolution erklärte sich Finnland am 4. Dezember 1917 für unabhängig und wurde – nach einem kurzen Intermezzo mit einem eingesetzten König – Republik. Die unterschiedlichen Auffassungen zwischen Sozialdemokraten und Konservativen über die Gestaltung des neuen Staats führten Anfang 1918 zu einem erbittert geführten mehrmonatigen Bürgerkrieg, in dem die von Deutschland militärisch unterstützten "Weißen" über die "Roten" siegten. Die entstandene, tiefe Kluft zwischen den politischen Lagern sollte erst im Krieg gegen die Sowjetunion weitgehend überwunden werden.
Zwischen 1918 und 1922 führten finnische Truppen militärische Operationen im Baltikum und in Russland durch – im erfolglosen Versuch, Gebiete mit finnisch-ugrischer Bevölkerung an ein gedachtes "Groß-Finnland" anzuschließen. In der Folge gelang es, die Demokratie in Finnland zu festigen. Unter anderem wurde 1932 ein Staatsstreich der faschistischen Lapua-Bewegung vereitelt.
Als Folge des Molotow-Ribbentrop-Paktes überfiel die Sowjetunion im Jahr 1939 Finnland mit der Absicht, das Land als "Volksrepublik" zu annektieren. Die Aggression scheiterte am zähen Widerstand der finnischen Armee. Dennoch musste Finnland nach dem "Winterkrieg" als Preis für seine staatliche Souveränität 1940 Gebiete an die Sowjetunion abtreten, darunter Karelien mit dessen Hauptstadt Viipuri (Vyborg, Wyborg).
Status des Musterlands
In der Absicht, sich die verlorenen Territorien zurückzuholen, ging Finnland mit Hitlerdeutschland eine "Waffenbrüderschaft" ein und eroberte 1941 im Zuge des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion seine Ostgebiete zurück und okkupierte auch sowjetisches Territorium über seine alten Grenzen hinaus ("Fortsetzungskrieg"). Die sowjetische Offensive von 1944 brachte Finnland an den Rand einer militärischen Niederlage. Erneut gelang es den Finnen jedoch, ihre Unabhängigkeit zu retten. Im Moskauer Waffenstillstand von 1944 musste Finnland die beanspruchten Ostgebiete wieder abtreten und sich überdies verpflichten, die im Land verbliebenen deutschen Truppen zu vertreiben, was in den sogenannten Lappland-Krieg mündete.
Nach dem Friedensvertrag von 1947 geriet Finnland als neutrales Land direkt an die Frontlinie des Kalten Krieges zwischen den Westmächten und der Sowjetunion. Einerseits war das Land durch den 1948 geschlossenen "Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand" mit der Sowjetunion verbunden, andererseits herrschte Marktwirtschaft und eine Demokratie westlichen Zuschnitts. Zudem orientierte sich Finnland zunehmend an seinen nordeuropäischen Nachbarn im Westen. 1955 trat Finnland dem drei Jahre zuvor von den skandinavischen Ländern gegründeten Nordischen Rat bei. Dennoch blieb eine gewisse – auch wirtschaftliche – Abhängigkeit von der Sowjetunion bestehen. Dieser Zustand ging als "Finnlandisierung" in die Geschichtsbücher ein.
Dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte 1992 die Auflösung des Freundschaftsvertrages und eine Wirtschaftskrise. Der unter anderem durch den zum Handy-Weltmarktführer aufgestiegenen Nokia-Konzern angetriebene Wirtschaftsaufschwung ab Mitte der 90er Jahre verhalf Finnland in vielen Bereichen - Stichwort Pisa-Studie, Wohlfahrtsstaat, Innovationen – zum Status eines Musterlandes.
1995 trat Finnland, gemeinsam mit Österreich und Schweden, der Europäischen Union bei. Die Neutralität wurde durch eine "Bündnisfreiheit" nach dem Muster Schwedens ersetzt. Eine NATO-Mitgliedschaft wurde vor allem von konservativen Kreisen immer wieder ins Spiel gebracht. Eine ernsthafte NATO-Diskussion blieb jedoch aus. Stattdessen setzte Finnland auf eine starke eigene Armee und eine enge Zusammenarbeit mit Schweden. Moskau blieb Helsinki in gewisser Distanz freundschaftlich verbunden.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar dieses Jahres brachte einen rasanten Aufschwung der NATO-Befürworter in Bevölkerung und Politik. Innerhalb von zwei Monaten kippte die finnische NATO-Linie von einer diffusen Position, dereinst theoretisch dem Bündnis beitreten zu können, zu einer klaren Präferenz für den Beitritt. (APA)