Hintergrund

Finnen erleichtert über NATO-Beitritt: Das Vertrauen in den Nachbarn ist weg

Dieses Foto vom 9. März 2022 zeigt die finnische Karelia Brigade bei einem Übungseinsatz in Taipalsaari nahe der russischen Grenze.
© AFP/Heno

Seit seiner Unabhängigkeit 1917 war Finnland militärisch neutral. Jetzt steht der Gang in die NATO bevor. Das sorgt vor allem für Erleichterung im Land.

Von Elias Huuhtanen/AFP

Helsinki – Seit dem Krieg in der Ukraine hat Martti Kailio sein Gewehr immer griffbereit. Von seinem Haus in Hiivaniemi im Südosten Finnlands kann der 73-Jährige bis nach Russland sehen, die Grenze verläuft direkt hinter dem See. "Das macht mich so wütend", sagt Kailio über die russische Aggression. Wie viele Menschen im Grenzgebiet ist er erleichtert, dass Finnland nun der NATO beitreten will.

"Das hätten wir schon früher tun sollen. Es macht keinen Sinn, noch länger zu warten", sagt der Rentner. Sollte Russland auch Finnland angreifen, ist er bereit zu kämpfen: "Ich würde zu den ersten Freiwilligen gehören, obwohl ich zu alt bin, um Soldat zu sein."

Öffentliche Meinung zur Neutralität gekippt

Veli-Matti Rantala (72) lebt ein paar Hundert Meter von der russischen Grenze entfernt. Der NATO-Beitritt ist für ihn eine "Notwendigkeit".
© AFP/Rampazzo

Finnland hat eine 1300 Kilometer lange Grenze zu Russland. Seit seiner Unabhängigkeit 1917 war das Land militärisch neutral. Doch nach Moskaus Einmarsch in der Ukraine Ende Februar kippte die öffentliche Meinung und auch die Politik vollzog eine Kehrtwende. Die große Mehrheit der Finnen unterstützt den Plan der Staatsspitze, die Neutralität aufzugeben und sich der westlichen Verteidigungsallianz anzuschließen.

Bei den älteren Menschen weckt die Invasion in der Ukraine schmerzhafte Erinnerungen an den Winterkrieg, als die Rote Armee 1939 Finnland überfiel, 22 Jahre nachdem es von Russland unabhängig geworden war. Wie die Ukraine heute, leistete die kleine finnische Armee damals erbitterten Widerstand und fügte den Sowjets schwere Verluste zu. Doch am Ende musste Finnland einen großen Teil seines Territoriums an Russland abtreten.

Früher skeptisch zu NATO-Beitritt, jetzt "erleichtert"

Der Bauernhof von Veli-Matti Rantala liegt nur wenige Schritte von der russischen Grenze in Suokumaa entfernt. Der 72-jährige hält einen alten rostigen Helm in den Händen und erzählt von den Schlachten, die in den umliegenden Wäldern stattfanden. "Jetzt, da wir uns dem westlichen Bündnis anschließen, bin ich nicht mehr allzu besorgt", sagt er. Der NATO-Beitritt sei eine "Notwendigkeit".

Auch vom Haus von Jaana Rikkinen in Vainikkala ist die Grenze nur ein paar hundert Meter entfernt, sie kann die russischen Grenzsoldaten am anderen Seeufer sogar hören. Früher habe sie Bedenken gegenüber der NATO gehabt, nun sei sie "erleichtert" über den geplanten Beitritt, sagt die 59-jährige Lehrerin, deren Onkel im Winterkrieg getötet wurde.

Freunde auf der anderen Seite der Grenze

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sei das Leben im Grenzgebiet manchmal beängstigend gewesen, erzählt Rikkinen. "Es passierte immer nachts. Zuerst hörte man die Hunde, dann die Schüsse", erinnert sie sich. 2001 sei ein Deserteur der russischen Armee über die Grenze geflohen und habe sich im Nachbarhaus versteckt, bevor er sich später nach einem Schusswechsel mit der Polizei das Leben nahm. Sollte sich die Situation in Russland weiter verschlechtern, könnten mehr Menschen versuchen, die Grenze zu überqueren, befürchtet Rikkinen.

Trotz der leidvollen Geschichte der Region gab es in den vergangenen Jahrzehnten regen Kontakt zwischen Finnen und Russen. "Auch wenn Russland immer gefürchtet wurde, gab es in dieser Ecke auch einen täglichen Austausch mit den Russen", sagt Rantala. Viele Menschen hätten Freunde auf der anderen Seite der Grenze.

Hoffen auf baldiges Kriegsende

Vor dem Krieg ging Lehrerin Rikkinen jede Woche zum Einkaufen über die Grenze oder fuhr für ein Wochenende nach St. Petersburg. Über die Russen habe es "nichts Negatives" zu sagen gegeben. "Aber dieses Vertrauen in die Nachbarn ist jetzt weg", sagt sie. "Die Grenze ist geschlossen und wenn wir sie überqueren würden, wüssten wir nicht, was passieren würde."

Viele Menschen im Dorf leben vom Grenzverkehr – sei es als Mitarbeiter der Bahn oder Grenzbeamte. Sie bekämen die Krise besonders zu spüren, fürchtet Rikkinen. "Deshalb hoffe ich, dass der Krieg bald zu Ende ist."

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