Ukraine spielt mit Verteidigung von Lyssytschansk auf Zeit
Die Ukraine versucht mit der Verteidigung der Stadt Lyssytschansk nur Zeit bis zum Eintreffen westlicher Waffenlieferungen zu gewinnen. Dies räumte der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, im Interview mit der "Presse am Sonntag" ein. Die Eroberung der Schwesterstadt Sjewjerodonezk habe vier Monate gedauert. "In Lyssytschansk benutzen wir die gleiche Taktik. Wir brauchen Zeit, um Waffen aus dem Westen zu erhalten."
"Ich denke, dass wir zu Beginn des Herbsts die Lage auf dem Schlachtfeld verändern werden", sagte Hajdaj auf die Frage nach dem Zeitpunkt für die ukrainische Gegenoffensive. Er räumte ein, dass die Ukraine "in der Tat sehr viele Waffen" brauche. "Teilweise" seien sie schon da, doch manchmal "hat man den Eindruck, der Westen will den Krieg verlängern. Es geht darum, dass Russland immer mehr geschwächt wird, bis es möglicherweise zusammenbricht", mutmaßte Hajdaj.
Der Gouverneur äußerte sich von dem Hintergrund einer breiten Offensive der Invasoren im Osten des Landes, aber auch im Süden. So wurde am Samstag auch die südukrainische Stadt Mykolajiw von schweren Explosionen erschüttert worden. Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte, das russische Militär habe fünf Militärkommandoposten in der Region Mykolajiw und im Donbass mit Hochpräzisionswaffen zerstört. Auch drei Lagereinrichtungen in der südlichen Region Saporischschja seien getroffen worden, ebenso wie eine Waffen- und Ausrüstungsbasis in einer Traktorfabrik im nordöstlichen Charkiw. Die Angaben beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Am Freitag waren in der Nähe der etwa 130 Kilometer entfernten Stadt Odessa nach ukrainischen Angaben bei russischen Raketeneinschlägen mindestens 21 Menschen getötet worden. Unter anderem wurde den Angaben zufolge ein Wohngebäude getroffen. Mykolajiw ist für den Schutz der letzten in ukrainischer Hand verbliebenen Schwarzmeerstadt von großer Bedeutung. In der an die Halbinsel Krim angrenzenden Region Cherson konnten sich die Invasoren nach Kriegsbeginn etablieren, doch waren den Verteidigern in den vergangenen Wochen vereinzelt Gebietsgewinne gelungen.
Das Verteidigungsministerium in Moskau behauptete, bei Luftangriffen in der Ostukraine seien mehrere ukrainische Waffenlager zerstört worden. Der ukrainische Generalstab in Kiew berichtete, in der Umgebung von Charkiw - der zweitgrößten Stadt des Landes - versuche die russische Armee, mit Unterstützung der Artillerie verlorene Positionen zurückzuerobern. Die Angaben aus den Kampfgebieten lassen sich kaum prüfen.
Die pro-russischen Kämpfer in der Ukraine haben nach eigenen Angaben die umkämpfte Stadt Lyssytschansk im Osten des Landes vollständig umzingelt. Zusammen mit russischen Truppen seien "heute die letzten strategischen Hügel" erobert worden, sagte ein Vertreter der Separatisten am Samstag der russischen Nachrichtenagentur Tass. "Damit können wir vermelden, dass Lyssytschansk vollständig eingekreist ist." Später hieß es dann, dass die Separatisten auch das Gebäude der Stadtverwaltung unter ihre Kontrolle gebracht hätten.
Die ukrainische Armee wies eine vollständige Umzingelung von Lyssytschansk zurück. Es gebe zwar heftige Kämpfe um die in der Region Luhansk gelegene Stadt, sagte ein ukrainischer Armeesprecher am Samstag im Fernsehen. Lyssytschansk sei "aber nicht eingekesselt und weiter unter Kontrolle der ukrainischen Armee". Hajdaj sagte der "Presse am Sonntag" ebenfalls, dass die ukrainischen Truppen "immer noch rein und raus" könnten. "Die Russen können Lyssytschansk nicht so einfach einnehmen. Das dauert", sagte er.
Bei Raketenangriffen auf die Stadt Slowjansk mit mindestens vier Toten soll Russland nach ukrainischen Angaben in der Nacht auf Samstag verbotene Streumunition eingesetzt haben. Dabei seien zivile Bereiche getroffen worden, in denen es keine Militäranlagen gebe, berichtete Bürgermeister Wadym Ljach im Online-Messengerdienst Telegram. Als Streumunition werden Raketen und Bomben bezeichnet, die in der Luft über dem Ziel bersten und viele kleine Sprengkörper freisetzen. Ihr Einsatz ist völkerrechtlich geächtet.
Die Ukraine beschuldigte Russland auch, über der inzwischen geräumten Schlangeninsel im Schwarzen Meer Phosphorbomben abgeworfen zu haben. Solche Bomben, die schwere Verbrennungen und Vergiftungen verursachen können, sind nicht explizit verboten. Allerdings ist ihr Einsatz gegen Zivilisten und in städtischen Gebieten geächtet. Der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, Igor Konaschenkow, ging auf keinen der Vorwürfe ein. Russland hatte die strategisch wichtige Insel, die es zu Beginn des Kriegs erobert hatte, diese Woche wieder geräumt.
Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sprach von einer veränderten Kriegsführung der russischen Armee. "Es ist eine neue Taktik Russlands: Wohnviertel zu attackieren und Druck auf westliche politische Eliten auszuüben, um die Ukraine zu zwingen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen." Moskau nehme keine Rücksicht darauf, wie die Welt auf "unmenschliche Angriffe" mit Marschflugkörpern auf Wohnviertel reagiere. Diese Taktik werde aber nicht aufgehen, sagte der Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Nach britischer Einschätzung setzt Russland in der Ukraine zunehmend auf ungenaue Raketen. Grund sei wohl, dass die Vorräte an modernen, zielgenauen Waffen schwinden, so das Verteidigungsministerium in London. Auf Überwachungsaufnahmen sei zu sehen, dass ein Einkaufszentrum in der ostukrainischen Stadt Krementschuk sehr wahrscheinlich von einer Rakete des Typs Ch-32 getroffen worden sei. Dabei handle es sich um eine Weiterentwicklung der sowjetischen Rakete Ch-22, die aber noch immer nicht dafür optimiert sei, Bodenziele genau zu treffen. In Krementschuk wurden bei dem Angriff am Montag mindestens 20 Menschen getötet.
Großbritannien protestierte nach Berichten über die Gefangennahme zweier weiterer Briten im Osten der Ukraine gegen die Behandlung Kriegsgefangener durch Russland. "Wir verurteilen die Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Zivilisten für politische Zwecke und haben dies gegenüber Russland angesprochen", erklärte das Außenministerium.