Krieg in der Ukraine

Die Ukraine verspricht eine Gegenoffensive

Die russischen Truppen rücken weiter vor, um auch die Region Donezk vollständig zu erobern.
© IMAGO/Viktor Antonyuk

Russland hat mit der Eroberung von Luhansk ein Kriegsziel erreicht. Doch seine Truppen marschieren in weitgehend zerstörte Städte ein.

Von Floo Weißmann

Kiew – Berichte über das Kriegsgeschehen sind stets mit großer Vorsicht aufzunehmen, und auch die Experten sind sich in ihren Einschätzungen nicht einig. Es spricht aber viel dafür, dass sich der Kriegsverlauf in der Ukraine in den vergangenen Wochen zugunsten von Russland gedreht hat. Bis zum Herbst soll sich das wieder ändern, behauptet zumindest die Ukraine.

Am Anfang ist Russland offenkundig mit dem Versuch gescheitert, die Ukraine mit einer Art Blitzkrieg zu überrennen. Stattdessen mussten sich die Invasionstruppen aus dem Raum Kiew zurückziehen und die Kriegsziele zumindest vorerst zurückschrauben.

In der nächsten Phase konzentriert sich Russland jetzt auf den Donbass im Osten – neben anhaltenden Luftangriffen im ganzen Land. Mit der Eroberung der Region Luhansk hat Russland nun ein erstes Kriegsziel erreicht. Zuletzt waren die nahezu umzingelten Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk für die Ukraine nicht mehr zu halten (siehe Grafik). Und die russischen Truppen rücken weiter vor, um auch die Region Donezk vollständig zu erobern.

Moskau hat anscheinend aus Fehlern gelernt. Es gab Umstrukturierungen – u. a. ein einheitliches Oberkommando für die Invasion – und vor allem eine neue Taktik. Anstelle von raschen Vorstößen setzte man auf wochenlange Bombardierungen, um die Verteidiger zu zermürben und ihre Ressourcen zu zerstören.

Die an Feuerkraft weit unterlegenen Ukrainer können den Vormarsch unter diesen Umständen anscheinend nur verzögern. Am Ende marschieren die russischen Truppen in weitgehend zerstörte und entvölkerte Städte ein – was die Kreml-Propaganda dann als „Befreiung“ feiert.

Im Ballungsraum Sjewjerodonezk und Lyssytschansk etwa lebten vor dem Krieg 380.000 Menschen. Davon sollen nach ukrainischen Angaben 20.000 zurückgeblieben sein. 60 Prozent der Wohnhäuser und 90 Prozent der Infrastruktur seien zerstört.

Wie es weitergeht, ist umstritten. Die ukrainische Seite verspricht eine Gegenoffensive, wenn erst einmal die versprochenen westlichen Waffen alle eingetroffen sind und die ukrainischen Soldaten das notwendige Training durchlaufen haben. Die Rede war zunächst von Sommer, zuletzt immer öfter von Herbst.

Der Rückzug von bestimmten Punkten der Front bedeute nur eines: „Dass wir dank unserer Taktik, dank der verstärkten Versorgung mit modernen Waffen, zurückkommen werden“, versicherte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntagabend. „Die Ukraine gibt nichts verloren.

Fest steht jedoch, dass der Abnützungskrieg für beide Seiten enorme Verluste bedeutet. Es kann daher durchaus sein, dass die Ukraine die neuen Waffen laufend „verbrauchen“ muss. Und auch auf ukrainischer Seite soll die anfangs hochgelobte Kampfmoral unter der russischen Kriegsführung gelitten haben.

Ebenso umstritten sind die Prognosen für die russische Seite. Die einen verweisen auf Russlands überlegene Ressourcen, mit denen es die Vernichtung der Ukraine noch lange Zeit von Ort zu Ort weiterschleppen könne – vielleicht sogar eines Tages wieder bis vor die Tore von Kiew.

Die anderen betonen Russlands anhaltende hohe Verluste und Nachschubprobleme, die es immer schwieriger machen würden, die Invasion weiter voranzutreiben und gleichzeitig die besetzten Gebiete zu kontrollieren. Sogar von einem drohenden Kollaps im Sommer war die Rede.

Eines der möglichen Szenarien wäre, dass Russland den Donbass erobert, solange es noch im Vorteil zu sein scheint – und dann auf eine Feuerpause pocht, bevor die Ukraine eine Gegenoffensive starten kann. Schwere Luftangriffe auf Kiew und andere Städte könnten den Druck auf die ukrainische Führung und den Westen erhöhen, sich auf Gespräche einzulassen.

Bisher scheint jedenfalls keine Seite bereit zu sein, sich ernsthaft an den Verhandlungstisch zu setzen – ungeachtet rhetorischer Geplänkel und Schuldzuweisungen. Das kann man als Hinweis darauf verstehen, dass sowohl Russland als auch die Ukraine davon ausgehen, ihre Kriegsziele militärisch zu erreichen – oder zumindest ihre Verhandlungsposition auf dem Schlachtfeld noch entscheidend verbessern zu können.