Großbritannien

Boris Johnson tritt als Parteichef zurück, bleibt aber vorerst Premier

Boris Johnson gab seinen Rücktritt am Donnerstag bekannt.
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Am Ende wurde der Druck zu groß für Boris Johnson. Der konservative Politiker hat seinen Rückzug als Regierungs- und Parteichef angekündigt. Doch er macht klar, dass er nicht freiwillig geht. Und aus der Downing Street verabschiedet er sich auch noch nicht.

London – Rückzug auf Raten: Nach beispiellosem Druck seiner Konservativen Partei ist der britische Premierminister Boris Johnson vom Parteivorsitz zurückgetreten, bleibt aber vorerst Regierungschef. Er werde weitermachen, bis seine Partei einen Nachfolger gewählt habe, sagte Johnson am Donnerstag in London. Er selbst wurde vor knapp drei Jahren von seinen Tories ins Amt gewählt. Allerdings forderten viele Parteifreunde, der 58-Jährige solle sofort auch als Regierungschef abtreten.

Die Opposition verlangt eine Neuwahl. Vor seinem Amtssitz in der Downing Street 10 wandte sich Johnson gewohnt selbstsicher an die britische Bevölkerung: „Ich möchte, dass Sie wissen, wie traurig ich bin, den besten Job der Welt aufzugeben." Als er an ein Redepult trat, waren von außerhalb der Downing Street Buhrufe zu hören, Mitarbeiter spendeten hingegen Applaus.

Reue zeigte Johnson nicht. Stattdessen kritisierte er in seiner gut sechsminütigen Stellungnahme die Rücktrittsforderungen seiner Partei als „exzentrisch". „Es ist nun eindeutig der Wille der konservativen Parlamentsfraktion, dass es einen neuen Parteichef geben soll und damit auch einen neuen Premierminister", sagte Johnson. Er habe zugestimmt, dass der Auswahlprozess für einen neuen Parteichef nun beginnen solle.

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Johnson betonte zugleich, er habe noch versucht, seine Partei von seinem Verbleib zu überzeugen. „Ich bedauere, dass ich keinen Erfolg hatte mit diesen Argumenten, und natürlich ist es schmerzhaft, so viele Ideen und Projekte nicht selbst vollenden zu können", sagte er.

Kurz zuvor ernannte Johnson noch neue Minister, mit denen er das Land führen will, bis ein neuer Premier im Amt ist. Analysten warnten vor einem drohenden Machtkampf innerhalb der Konservativen Partei.

Johnson war in den vergangenen Tagen massiv unter Druck geraten. Mehrere Kabinettsmitglieder und Dutzende parlamentarische Regierungsmitarbeiter traten von ihren Ämtern zurück. Zuletzt forderte ihn sogar der erst am Dienstag ins Amt berufene Finanzminister Nadhim Zahawi zum Rücktritt auf.

Zahawi gilt wie Außenministerin Liz Truss und Handelsministerin Penny Mardaunt als möglicher Nachfolger. In Umfragen führt Verteidigungsminister Ben Wallace. Offiziell hat bisher nur Generalstaatsanwältin Suella Braverman ihre Kandidatur angekündigt.

„Sie müssen das Richtige tun und jetzt gehen", schrieb Finanzminister Zahawi auf Twitter. „Das ist nicht tragbar, und es wird nur noch schlimmer werden, für Sie, für die Konservative Partei und vor allem für das ganze Land." Er habe Johnson am Mittwochabend in seinem Amtssitz gebeten, mit Würde zu gehen. „Es bricht mir das Herz, dass er nicht zugehört hat."

Das Land verdiene eine Regierung, die nicht nur stabil, sondern auch integer sei. „Herr Premierminister, in Ihrem Herzen wissen Sie was zu tun ist, gehen Sie jetzt." Von einem eigenen Rücktritt war bei Zahawi nicht die Rede. Er wird wie eine Reihe anderer amtierender und früherer Minister als potenzieller Nachfolger Johnsons gehandelt.

Oppositionschef Keir Starmer von der Labour Party begrüßte den Rücktritt. Er forderte aber, nun sei ein „frischer Start" nötig. „Wir brauchen eine Labour-Regierung", sagte er. „Wir sind bereit."

Skandale sorgten für Schlagzeilen

Johnson war 2019 Chef der Konservativen und damit Premierminister geworden. Die anfängliche Popularität des ehemaligen Journalisten und Bürgermeisters von London wurde jedoch bald geschmälert durch Kritik an seinem betont kämpferischen und von Gegnern oft als chaotisch empfundenen Regierungsstil. Immer wieder wurden Rücktrittsforderungen laut. Das Fass zum Überlaufen brachte zuletzt sein Umgang mit der Affäre um einen konservativen Abgeordneten, dem sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. Johnson hatte sich im Fernsehen dafür entschuldigt, dass die Öffentlichkeit über seinen Wissensstand in dem Fall falsch informiert worden sei.

Die Affäre gehört zu einer langen Reihe von Skandalen und Fehltritten, die im Falle von Partys während des Corona-Lockdowns für Johnson zu einer Geldstrafe und einem Misstrauensantrag seiner eigenen Fraktion führten. Die Vertrauensabstimmung überstand Johnson Anfang Juni. Am Mittwoch wurde unter den Konservativen über Wege diskutiert, ein nun eigentlich vorerst ausgeschlossenes Misstrauensvotum doch einleiten zu können.

Chronologie der Affären während der Amtszeit von Boris Johnson

„Partygate", Spendenaffäre und übergriffige Parteifreunde: Die Liste der Skandale und Affären rund um den britischen Premierminister Boris Johnson ist lang. Nach dem jüngst überstandenen Misstrauensvotum wegen zahlreicher Partys in der Downing Street während des Corona-Lockdowns bringt der Rücktritt mehrerer Regierungsmitglieder Johnson nun erneut in Bedrängnis.

Luxusrenovierung

Im April 2021 geriet Johnson wegen der luxuriösen Renovierung der Wohnung, die er mit seiner Familie in der Downing Street 11 bewohnt, unter Druck. Der Premier versicherte, er habe für die Arbeiten „persönlich" bezahlt. Später stellte sich aber heraus, dass die Renovierung maßgeblich mit Mitteln aus einer Privatspende an die Tories bezahlt worden war. Da die Spende nicht ordnungsgemäß deklariert worden war, wurde Johnsons Partei mit einer Geldstrafe belegt.

Luxusurlaub

Im Mai 2021 wurde eine parlamentarische Untersuchung zur unklaren Finanzierung einer Urlaubsreise des Premierministers eingeleitet. Johnson hatte über Weihnachten 2019 mit seiner damaligen Verlobten und heutigen Ehefrau Carrie Symonds auf der Privat-Insel Mustique Urlaub gemacht. Die Kosten für den Aufenthalt wurden von dem Geschäftsmann David Ross bezahlt, der auch Spender von Johnsons Konservativer Partei ist. Nach einer monatelangen Untersuchung kam der zuständige Parlamentsausschuss zu dem Schluss, dass Johnsons Angaben zur Finanzierung der umstrittenen Luxus-Reise korrekt gewesen seien.

Lobby-Affäre

Im Dezember 2021 musste der konservative Abgeordnete Owen Paterson wegen einer Lobbyismus-Affäre zurücktreten. Johnson hatte sich Anfang November in die Affäre eingeschaltet und versucht, ein Disziplinarverfahren gegen den Tory-Politiker zu stoppen – musste dann aber angesichts der Empörung in den eigenen Reihen einen Rückzieher machen. Patersons Wahlkreis, der über Jahrzehnte eine Hochburg der Tories war, verloren die Konservativen bei der Nachwahl an die Liberaldemokraten.

Corona-Politik

Auch wegen seiner Corona-Politik sah sich Johnson scharfer Kritik ausgesetzt. Im Mai 2020 geriet sein Top-Berater Dominic Cummings wegen mutmaßlicher Verstöße gegen die Corona-Auflagen unter Druck. Der Premierminister stellte sich trotz der öffentlichen Empörung hinter seinen Vertrauten, der schließlich im November seinen Rücktritt verkündete. Später kam es zum Zerwürfnis zwischen Johnson und Cummings, der dem Premier daraufhin „katastrophale" Versäumnisse in der Corona-Pandemie vorwarf.

Auch in einem Parlamentsbericht wurde dem Regierungschef ein schlechtes Zeugnis für seinen Umgang mit der Corona-Pandemie ausgestellt. Das Hinauszögern eines Lockdowns zu Beginn der Pandemie war demnach „eines der größten Versäumnisse im Bereich der öffentlichen Gesundheit" in der Geschichte des Landes.

Empörung löste auch ein angebliches Zitat Johnsons aus, mit dem er sich im Herbst 2020 gegen einen dritten Corona-Lockdown gewehrt haben soll. „Keinen verdammten Lockdown mehr – sollen sich doch die Leichen zu tausenden stapeln", zitierte ihn die Zeitung Daily Mail. Johnson bestritt die Aussage.

Partygate

Die Affäre um zahlreiche Partys am Regierungssitz während des Corona-Lockdowns führte im Juni zu einem parteiinternen Misstrauensvotum gegen Johnson. Der Premierminister überstand die Abstimmung. 32 Stimmen fehlten am Ende, um Johnson zum Rücktritt zu zwingen. Johnson entschuldigte sich mehrfach für die illegalen Partys, lehnte einen Rücktritt aber ab.

Wegen seiner Teilnahme an einer der Feiern wurde Johnson mit einer Geldstrafe belegt – und ging damit als erster amtierender britischer Premierminister in die Geschichte ein, der wegen eines Gesetzesbruchs bestraft wurde. Die hochrangige Beamtin Sue Gray zog in ihrem Untersuchungsbericht zur Partygate-Affäre ein vernichtendes Fazit: Die Regierungsspitze sei für die Verfehlungen während des Corona-Lockdowns verantwortlich, folgerte sie. Gray kritisierte vielfache Regelverstöße und „exzessiven Alkoholkonsum" am Regierungssitz.

Belästigungsvorwürfe gegen konservative Politiker

Anfang Juli trat der stellvertretende Parlamentarische Geschäftsführer der Tories, Chris Pincher, zurück, nachdem er zwei Männer sexuell belästigt hatte. Dabei wurde bekannt, dass es bereits in der Vergangenheit Vorwürfe gegen ihn gegeben hatte. Ein Regierungssprecher hatte zunächst dementiert, dass Johnson von den alten Vorwürfen gegen Pincher gewusst habe. Nach Angaben eines ranghohen früheren Beamten war Johnson aber bereits 2019 über einen entsprechenden Vorfall informiert worden. Der Premier wurde daraufhin der Lüge bezichtigt. Johnson erklärte, rückblickend sei die Ernennung Pinchers ein Fehler gewesen.

Mitte Mai war bereits ein konservativer Abgeordneter unter Vergewaltigungsverdacht vorübergehend festgenommen worden. Ebenfalls im Mai wurde ein früherer Tory-Abgeordneter wegen sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Ende April war außerdem ein konservativer Parlamentarier zurückgetreten, nachdem er im Parlament auf seinem Handy Porno-Videos geschaut hatte.

Russland bejubelt Rückzug

Bis zuletzt hatte Johnson noch Unterstützer. Sie lobten den Premier dafür, er habe in den „großen Fragen" wie der Corona-Impfkampagne richtig entschieden sowie den Brexit vollendet. Auch für seine klare Unterstützung der Ukraine mit Waffenlieferungen im Krieg gegen Russland wurde Johnson vielfach gelobt. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak dankte Johnson für die Hilfe.

Russland hingegen bejubelte den Rückzug am Donnerstag mit Häme. Die Grünen im Europaparlament betonten, Johnsons Aus biete die Chance für einen Neustart zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU. Auch Andreas Schieder (SPÖ), Brexit-Berichterstatter des außenpolitischen Ausschusses des EU-Parlaments, begrüßte den Rücktritt. "Es war höchste Zeit, dieses würdelose Schauspiel zu beenden. Boris Johnson ist als Regierungschef mit all seinen Vorhaben gescheitert.(APA/dpa/Reuters/AFP/TT.com)

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