Literatur

2. Literaricum Lech: Terror des Glücks und Türme der Theorie

Elke Heidenreich und Juliane Marie Schreiber sprachen beim Literaricum Lech über den „Terror des Positiven“.
© Hurnaus

Herman Melvilles „Bartleby“ als Vorwand für (über-)lebenswichtige Ratschläge beim 2. Literaricum Lech.

Von Joachim Leitner

Lech – Vor der Neuen Kirche in Lech am Arlberg wird gerade gearbeitet. Bagger brechen den Vorplatz auf. Am vergangenen Donnerstag wurde auch drinnen – auf gut Vorarlbergisch – „gschafft“. Auch bei der Eröffnungsveranstaltung des heurigen Literaricums Lech wurden Oberflächen aufgemacht und – Schicht um Schicht – darunter Verborgenes freigelegt. Der Bagger vor der Kirche passt also gut ins Bild – nur die Geräusche, die er bisweilen machte, störten zunächst.

Raoul Schrott
© Schoech

Das Literaricum, die – wenn man so will – kleine Schwester des seit Jahren etablierten Philosophicums, fand in den vergangenen Tagen zum zweiten Mal statt. Die Idee hinter dem von Michael Köhlmeier und Raoul Schrott initiierten Festival ist so einfach wie brillant: Ein Text der Weltliteratur, seine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte wird aus verschiedensten Perspektiven beleuchtet. So viel inhaltliche Konzentration und Mut zur Vertiefung ist selbst bei Literaturfestivals selten geworden.

Den beiden Initiatoren ist dabei das anregende Abschweifen erlaubt: Köhlmeier dachte in seinen Grußworten etwa über Lesegeschwindigkeit und die Orientierungslosigkeit nach, die ein Zuviel an Beschreibung auslösen kann; Schrott warf Samstag Früh auf der Kriegeralpe hoch über Lech ein Schlaglicht auf altägyptische Liebeslyrik.

Michael Köhlmeier
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Nach Grimmelshausens „Der abenteuerliche Simplicissimus“ im Vorjahr stand heuer „Bartleby, der Schreiber“ im Mittelpunkt des Literaricums, Herman Melvilles kurze, rätselhafte Erzählung über einen Notarsangestellten, der ihm Aufgetragenes „lieber nicht machen möchte“, sich dadurch mit ungeheuerlicher Konsequenz aus dem gesellschaftlichen Spiel nimmt – und seinen Chef in fürsorgliche Verzweiflung treibt.

Den Eröffnungsvortrag hielt Elke Heidenreich. Sie stellte „Bartleby“ ins Bezugsfeld der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft, sprach über Selbstoptimierungzwänge und Krankheit, entdeckte in Melvilles Schreiber einen Ahnen von Kafkas Hungerkünstler – und entwarf mit einem Rückgriff auf den italienischen Philosophen Antonio Gramsci eine Alternative zu Bartlebys letztlich letaler Verweigerung. Gramsci stellte dem „Pessimismus des Verstandes“ den „Optimismus des Willens“ zur Seite. Oder in den Worten des unvergleichlich (über-)lebensklugen Snoopy aus den „Peanuts“-Cartoons: „Eines Tages müssen alle sterben – an allen anderen Tagen nicht.“

Karl-Heinz Ott und Nicola Steiner zeichneten die Rezeptionsgeschichte von Herman Melvilles „Bartleby, der Schreiber“ nach.
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Tags darauf diskutierte die deutsche Literaturkritikerin mit der Politologin Juliane Marie Schreiber. Schreiber hat kürzlich eine äußerst anregende, gut beobachtete (und sehr komische) Streitschrift gegen den „Terror des Positiven“ vorgelegt – und sich dafür den Titel „Ich möchte lieber nicht“ von Bartleby geliehen. Auf der Bühne wie im Buch rechnet Schreiber lustvoll mit gängigen Glücks-Imperativen, den analogen wie den sozialmedialen, ab – und fordert zum herzhaften Fluchen auf. Schimpfen, das belegen seriöse Studien, lindert seelischen Schmerz.

Davor hat der Schauspieler Thomas Sarbacher bereits die vollständige „Bartleby“-Erzählung radiotauglich vor Publikum eingelesen. Die gut zweistündige Lesung, die alles schön- und bisweilen zeitgeistige Sinnieren wieder zurück zum nackten Text führte, war dabei mehr als bloße Performance. Sie war dramaturgisch notwendig. Weil am Freitagnachmittag die Programmleiterin des Literaricums Nicola Steiner mit Schriftsteller Karl-Heinz Ott der Rezeptionsgeschichte Bartlebys nachspürte. Und die führt bisweilen weit weg von dem, was der Text anbietet. Ott – erst kürzlich mit dem renommierten Joseph-Breitenbach-Preis ausgezeichneter Universalist der europäischen Geistesgeschichte – zeichnet nach, wie Melvilles Erzählung gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Theoretikern für ihre Denkgebäude, man möchte beinahe sagen, „missbraucht“ wurde: Gilles Deleuze, Giorgio Agamben oder Slavoj Žižek entdeckten das revolutionäre Widerstandspotenzial des höflichen Verweigerers – und stülpten ihm ihre Theorien über. Diese Theorien haben es zweifellos in sich. Ott versteht es, sie aus dem Theoretischen in bodenständiges Deutsch zu übersetzten. Mit Bartleby und seinen Geheimnissen aber haben die hohen Theorietürme wenig zu tun. Was Melvilles Schreiber wohl dazu gesagt hätte, fragt Steiner. Die Antwort gibt Michael Köhlmeier aus dem Publikum: „Ich möchte lieber nicht.“

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Der Schauspieler Thomas Sarbacher (5) präsentierte dem Publikum die ganze Erzählung.
© Hurnaus

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