Halbes Jahr nach russischer Invasion: Blutiges Patt im Ukraine-Krieg
Am 24. Februar, vor genau sechs Monaten, startet Russland seinen blutigen Angriffskrieg auf den Nachbarstaat Ukraine. Mittlerweile stehen sich Russen und Ukrainer weit im ukrainischen Territorium an der Front gegenüber. Beide Seiten haben jedoch derzeit nicht genügend Ressourcen, um große Fortschritte zu erzielen.
Kiew – Nach sechs Monaten Krieg gegen die Ukraine kommen die russischen Truppen nur im Kriechgang voran – und müssen auch spektakuläre Gegenschläge hinnehmen. So kann sich Präsident Wladimir Putin den Kriegsverlauf nicht gedacht haben, als seine Panzertruppen am 24. Februar die Grenze überschritten.
Binnen Stunden änderte sich das sicherheitspolitische Gefüge in Europa: Die NATO aktivierte noch am selben Tag Verteidigungspläne für Osteuropa, EU-Sanktionspakete wurden beschlossen und dann auch eine "Zeitenwende" mit 100 Milliarden Euro für die deutsche Bundeswehr.
📽️ Video | Wolfgang Müller zur aktuellen Lage in der Ukraine
Russische Großoffensive an Front nicht absehbar
Regierungen und Militärexperten, die der Ukraine zu Beginn eine Niederlage binnen weniger Wochen vorhersagten, lagen gewaltig daneben. Inzwischen gleicht die Situation einem blutigen Patt. Daraus könnte – so sagen es Diplomaten – ein Krieg werden, der noch Jahre dauert, mit weiteren schweren Grausamkeiten und schlimmen Verbrechen an der Zivilbevölkerung.
Leitartikel
TT-Leitartikel zu einem halben Jahr Ukraine-Krieg: Putins Aggression
Die russischen Einheiten kommen kaum voran. Sie verhinderten bei Vorstößen in ukrainisch kontrollierte Gebiete nicht, dass sich die Verteidiger neu gruppieren, wie Militärexperten des Institute for the Study of the War aus den USA bilanzieren. Und: "Die russischen Kräfte werden wahrscheinlich weiterhin nicht genug Ressourcen für einzelne Offensiven bereitstellen können, wie sie für bedeutsame Gebietsgewinne nötig sind, aus den einen operativer Erfolg wird."
20 Prozent der Ukraine derzeit unter Kontrolle der Invasoren
Die vom Westen mit Milliarden und schweren Waffen unterstützte Führung in Kiew stellt der Bevölkerung eine Vertreibung der russischen Angreifer in Aussicht. "Wir haben die russische Armee aus den nördlichen Gebieten verjagt. Wir haben die Besatzer von unserer Schlangeninsel vertrieben. Sie spüren bereits, dass es Zeit ist, aus Cherson und überhaupt aus dem Süden unseres Staates zu verschwinden", versprach Präsident Wolodymyr Selenskyj Mitte August. "Es wird die Zeit kommen, dass sie aus dem Gebiet Charkiw verschwinden, aus dem Donbass, von der Krim ..."
Trotzdem musste auch Selenskyj zugeben, dass inzwischen rund 20 Prozent des Staatsgebiets – die Krim eingeschlossen – nicht mehr unter ukrainischer Kontrolle stehen. Aus dem Kreml kommen unverändert Behauptungen, alles laufe nach Plan. Die Ziele der "militärischen Spezialoperation", wie der Krieg in Russland offiziell nur heißt, würden in vollem Umfang erreicht. "Ohne Zweifel." Was genau die Ziele sein sollen, ist aber auch vielen Russen nicht mehr klar. Die Sanktionen setzen ihrer Wirtschaft schwer zu. Die NATO, die zurückgedrängt werden sollte, ist stattdessen auf dem Vormarsch: Finnland und Schweden kommen nun auch in die Militärallianz.
Russische Bevölkerung blendet blutigen Krieg aus
Die große Mehrheit der Russen blendet den Krieg aus. Putin spricht als Oberbefehlshaber immer wieder vom Ziel der "Befreiung" des Donbass. Die Bilder von Tod und Zerstörung, die auch viele Russen trotz gesperrter Internetseiten und Zensur in den Staatsmedien kennen, lassen aber am Sinn der Invasion zweifeln. Zum Donbass gehören das Gebiet Luhansk, das die Ukraine nicht mehr kontrolliert, und die Region Donezk, wo Moskau seit Wochen ohne merklichen Fortschritt nach Einschätzung unabhängiger russischer Experten bisher etwas über 60 Prozent des Gebiets erobert hat.
Was aber mit den eroberten Teilen der Gebiete Cherson, Charkiw und Saporischschja geschehen soll, dazu gibt es keine klaren Ansagen des Kremls. Diskutiert werden immer wieder "Volksabstimmungen" über einen Beitritt zu Russland, ohne dass es ein Datum gibt. Die ganze "Operation" liegt nach einer Analyse des Experten Andrej Perzew deutlich hinter Zeitplan. Moskau schätze die Lage immer wieder falsch ein. "Im Kreml hoffen sie, dass die russischen Streitkräfte bis Dezember/Jänner das Donezker Gebiet doch noch komplett einnehmen, ohne dabei die Kontrolle über die schon okkupierten Territorien zu verlieren", schrieb Perzew für das Internetportal Meduza.
Russische Armee verliert Nachschub an Soldaten
Russische Abgeordnete und Militärs betonen zwar, dass der gesamte Süden abgetrennt werden solle – also auch die Hafenstadt Odessa. Der Kreml bestätigt das aber nicht. Durch einen russischen Korridor bis zur Ex-Sowjetrepublik Moldau würde die Ukraine den Zugang zum Schwarzen Meer verlieren und würde zum Binnenland. Aber selbst vielen Russen ist klar, dass nichts läuft, wie es sollte. Zwar plakatieren Städte und Regionen Aufrufe, sich sogenannten Freiwilligenbataillonen anzuschließen. Aber der personelle Nachschub für die Front kommt nicht zusammen, wie selbst russische Zeitungen offen schreiben. Zudem wehren sich Angehörige der Sicherheitsorgane bisweilen auch vor Gericht dagegen, in den Krieg zu ziehen.
Dabei locken für russische Verhältnisse vergleichsweise hohe Monatseinkommen von 100.000 Rubel (rund 1.700 Euro) und mehr. Auch in Gefängnissen wird rekrutiert - mit dem Versprechen eines späteren Lebens in Freiheit. Immer wieder gibt es Berichte, wonach etwa der von den USA zur Fahndung ausgeschriebene und auch von der EU mit Sanktionen belegte Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin in den Straflagern auf Suche nach Kämpfern geht. Der Mann mit gutem Draht zu Putin gilt als Finanzier der international tätigen Söldnergruppe "Wagner", die für viele Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht wird.
Nach einem halben Jahr sieht auch das russische Internetportal Meduza in einer großen Analyse eine Pattsituation. "Die Kampfhandlungen sind in der Sackgasse, aber ein Einfrieren des Konflikts ist weder für Moskau noch für Kiew von Vorteil." Niemand wolle nachgeben und Verlierer sein. "Ihre politischen Ziele bringen beide Seiten dazu, ihren Einsatz zu erhöhen für einen noch größer angelegten Krieg."
Putin zögert noch mit Generalmobilmachung
Putin hatte zuletzt auch gesagt, dass Russland noch nicht einmal richtig losgelegt habe. Die große Mehrheit der Russen ist überzeugt, dass er alles tut, um eine Niederlage zu verhindern. Durch eine Generalmobilmachung könnte der Kremlchef aus der "Militäroperation" einen auch für Russland richtigen Krieg machen, den er dann auch so nennen müsste. Die Sorge, er könne eine Eskalation mit den NATO-Staaten im Baltikum suchen, hat sich bisher aber nicht bestätigt.
Das Bündnis sei kaltstartfähig und verteidigungsbereit, sagte kürzlich der deutsche Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart, Kommandierender General der NATO-Bodentruppen in Nordosteuropa und damit auch zuständig für die Grenzgebiete zu Russland, Belarus und der Ukraine. "Die Prozesse sind festgelegt. Wenn es zu einem Angriff kommt, wird sofort militärisch reagiert", erläuterte Sandrart in einem Videointerview der Bundeswehr. "Und jeder Angriff wird sofort militärisch beantwortet und auch zurückgeschlagen." (APA, dpa)
Russlands Krieg gegen die Ukraine
Ein halbes Jahr ist seit der Invasion Russlands in den Nachbarstaat Ukraine vergangen. Rund 6,4 Millionen Menschen sind mittlerweile aus der ehemaligen Sowjetrepublik geflohen. Die wichtigsten Ereignisse:
24. Februar: Russland greift den souveränen Nachbarstaat Ukraine an.
26. Februar: Deutschland entscheidet, Waffen aus Beständen der Bundeswehr an die Ukraine zu liefern. Russische Geldhäuser sollen aus dem Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift ausgeschlossen werden.
27. Februar: Russlands Präsident Wladimir Putin versetzt die Abschreckungswaffen der Atommacht in Bereitschaft.
2. März: Die UN-Vollversammlung verurteilt die russische Invasion mit historisch großer Mehrheit.
4. März: Ein Feuer an Europas größtem Atomkraftwerk nahe Saporischschja schürt Ängste vor einer nuklearen Katastrophe.
8. März: Tausende Zivilisten werden aus der umkämpften Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine gerettet. Die USA verbieten den Import von Öl aus Russland.
16. März: Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ordnet das sofortige Ende der russischen Gewalt in der Ukraine an.
17. März: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht in einer Videobotschaft vor dem Deutschen Bundestag.
24. März: Die NATO beschließt eine massive Aufrüstung und aktiviert die Abwehr chemischer, biologischer und atomarer Bedrohungen.
3. April: Gräueltaten an der Zivilbevölkerung in der Kiewer Vorstadt Butscha sorgen für Entsetzen. Die Ukraine zählt mehr als 400 Leichen.
8. April: Bei einem Raketenangriff auf den Bahnhof in Kramatorsk sterben mehr als 50 Menschen.
10. April: Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) trifft den ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj zu Gesprächen in Kiew. Am Nachmittag reist der Bundeskanzler nach Butscha, wo nach dem Abzug Russlands über 300 Tote gefunden worden waren.
11. April: Bundeskanzer Karl Nehammer (ÖVP) reist als erster EU-Regierungschef seit Beginn des Ukraine-Krieges nach Moskau zu Gesprächen mit Wladimir Putin. Auf seine Botschaft, dass Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj das persönliche Gespräch suche, habe es von Putin "keine Reaktion" gegeben, so der Kanzler.
15. April: Russland bestätigt den Untergang des Raketenkreuzers "Moskwa". Die Ukraine behauptet, das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte versenkt zu haben. Moskau bestreitet das.
20. April: Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine überschreitet die Marke von fünf Millionen.
21. April: Im Osten der Ukraine hat die russische Armee mittlerweile den Großteil der Region Luhansk unter Kontrolle.
27. April: Russland stoppt Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien.
28. April: Der Deutsche Bundestag gibt grünes Licht für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine.
10. Mai: Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock trifft Selenskyj in Kiew. Die deutsche Botschaft wird wiedereröffnet.
12. Mai: Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba fordert auf seinem viertägigen Deutschland-Besuch die Lieferung westlicher Kampfjets und Raketenabwehrsysteme.
18. Mai: Schweden und Finnland beantragen offiziell die NATO-Mitgliedschaft.
20. Mai: Deutschland kündigt für Juli die Lieferung der ersten 15 Flugabwehrpanzer Gepard an die Ukraine an.
21. Mai: Russlands Armee hat nach eigenen Angaben die Hafenstadt Mariupol komplett unter Kontrolle. Zuvor hatten sich die letzten der mehr als 2.400 ukrainischen Kämpfer im Stahlwerk Azovstal ergeben.
30. Mai: Die EU einigt sich auf den Stopp russischer Öl-Lieferungen über den Seeweg. Transporte per Pipeline sollen möglich bleiben.
31. Mai: Die USA wollen das Artilleriesystem Himars an Kiew liefern.
7. Juni: Bei einem Besuch in Vilnius sagt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz Litauen zusätzliche militärische Unterstützung gegen einen möglichen russischen Angriff zu.
11. Juni: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen führt in Kiew Gespräche über den EU-Beitrittsantrag der Ukraine.
14. Juni: Der russische Energieriese Gazprom verringert die maximalen Gasliefermengen durch die Ostseepipeline Nord Stream nach Deutschland um 40 Prozent.
21. Juni: Knapp vier Monate nach Kriegsbeginn sind die ersten Panzerhaubitzen 2000 aus Deutschland in der Ukraine eingetroffen, die modernsten Artilleriegeschütze der Bundeswehr.
23. Juni: Die Europäische Union nimmt die Ukraine sowie die Republik Moldau offiziell in den Kreis der Beitrittskandidaten auf.
27. Juni: Die russische Luftwaffe bombardiert ein Einkaufszentrum in der ostukrainischen Stadt Krementschuk. Es gibt nach ukrainischen Angaben mindestens 20 Tote.
29. Juni: Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg will die NATO ihre Kampfkraft massiv erhöhen. Auf einem Gipfel in Madrid beschließt das Bündnis ein neues strategisches Konzept.
9. Juli: Selenskyj hat den ukrainischen Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, entlassen. Dieser war unter anderem wegen Äußerungen über den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera in die Kritik geraten.
18. Juli: Die EU will weitere 500 Millionen Euro für die Lieferung von Waffen und Ausrüstung an die ukrainischen Streitkräfte zur Verfügung stellen, wie EU-Ratspräsident Charles Michel ankündigt.
20. Juli: Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) reist zusammen mit seinem tschechischen Amtskollegen nach Kiew.
21. Juli: Nach routinemäßigen Wartungsarbeiten fließt wieder Gas durch die Pipeline Nord Stream 1. Die Liefermengen erreichen aber kaum ein Fünftel der Vorkriegswerte, die Sorge um eine stabile Energieversorgung im Winter bleibt.
26. Juli: Deutschland hat der Ukraine laut Verteidigungsministerium Mehrfachraketenwerfer und weitere Panzerhaubitzen geliefert. Russland kündigt an, nach 2024 aus der Internationalen Raumstation ISS auszusteigen.
29. Juli: Dutzende ukrainische Kriegsgefangene kommen bei einem Angriff auf ein Gefängnis unter Kontrolle der prorussischen Separatisten in der Ostukraine ums Leben. Kiew und Moskau machen sich gegenseitig dafür verantwortlich.
1. August: Erstmals seit Beginn der russischen Invasion verlässt wieder ein Schiff mit Getreide den Hafen von Odessa in der Ukraine. Tage zuvor hatten sich die Parteien darauf verständigt, die erste größere Übereinkunft seit Kriegsbeginn.
9. August: Explosionen erschüttern eine russische Luftwaffenbasis auf der 2014 annektierten Halbinsel Krim. Mehrere Flugzeuge werden zerstört, die Hintergründe bleiben unklar.
11. August: Die unübersichtliche Lage im von Russen besetzten Atomkraftwerk Saporischschja beschäftigt den UN-Sicherheitsrat. Das Kraftwerk gerät immer wieder unter Beschuss.
16. August: Auf der Krim detoniert ein russisches Munitionslager, Moskau spricht von einem "Sabotageakt".
18. August: UN-Generalsekretär Guterres und der türkische Präsident Erdogan treffen Selenskyj in der Ukraine, um Chancen zur Beendigung des Kriegs auszuloten.