Ukraine-Krieg

77.600 Ukrainer haben bereits eine „blaue Karte“, 3437 in Tirol

„Den Krieg nicht vergessen“: Ukrainer hoffen weiter auf Hilfe, trotz Diskussionen.
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Sechs Monate Krieg: Allein in Tirol leben 3661 vertriebene Menschen aus der Ukraine, österreichweit 83.500. Die Hilfsbereitschaft ist noch vorhanden, aber viele Helfer und Geflüchtete sind frustriert.

Von Liane Pircher

Innsbruck – Im April dieses Jahres waren es „nur“ 25 Personen aus der Ukraine, die beim AMS Tirol vorgemerkt waren. Nach sechs Monaten sind es jetzt 258, davon 42 in Schulung. Von den 3661 laut zentralem Melderegister registrierten Ukrainern in Tirol haben 1087 eine aufrechte Beschäftigungsbewilligung. Insgesamt wurden hier bis dato 3437 „blaue Karten“ bei der Staatsdruckerei in Auftrag gegeben. Diese garantiert ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht in Österreich und ist Voraussetzung für einen Zugang zum Arbeitsmarkt. Österreichweit wurden 77.600 Ausweise versandt. In der Grundversorgung befinden sich in ganz Österreich 57.700, in Tirol 3217 Menschen. „Generell“, sagt Tirols stellv. AMS-Chefin Sabine Platzer-Werlberger, „sieht man, dass ein gar nicht so kleiner Teil in Tirol bereits arbeitet.“ Die meisten in der Gastronomie und Landwirtschaft. Gut die Hälfte der beim AMS Vorgemerkten hat eine höhere bzw. akademische Ausbildung. Thema Nummer eins ist bei vielen Ukrainern immer noch Deutsch, viele Kurse laufen. Von den rund 950 ukrainischen Kindern und Jugendlichen, die bereits hier zur Schule gehen, besuchen knapp 200 die Sommerschule, die am Montag für die letzten beiden Ferienwochen startet.

Dauert der Krieg noch länger an und würden Einschätzungen von Migrationsexperten insofern eintreffen, dass die Hälfte der Vertriebenen tatsächlich hierbleibt, dann müsste man mitgebrachte Qualifikationen unbedingt besser nutzen, so Platzer-Werlberger.

Allein in der Gastronomie arbeiten in Tirol 350 Vertriebene aus der Ukraine, in der Landwirtschaft sind es fast 200.
Sabine Platzer-Werlberger (AMS Tirol)

Aktuell dreht sich aber noch vieles um eine gute Unterbringung und ums Eingewöhnen in einem neuen Land. Im Frühjahr hat hier die Caritas eine große Zahl an Wohnungen angeboten bekommen, die an die Tiroler Sozialen Dienste (TSD) weitervermittelt wurden. Viele Angebote davon waren für eine erste Übergangszeit gratis, also ohne Miete, oft nur Betriebskosten. Von den 3661 gemeldeten Personen lebt der Großteil nach wie vor in privaten Unterkünften – 1362 davon sind institutionell über die TSD untergebracht. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Kraft verlangt die Lage von allen ab. Seitens der Caritas wird kritisiert, dass die Grundversorgung knapp bemessen ist: „Man kann damit nur in organisierten Quartieren der TSD auskommen. Asylwerber in Privatquartieren sind praktisch darauf angewiesen, dass Vermieter keine Miete verlangen und nur Betriebskosten verrechnen. Auf die Dauer ist das nicht zumutbar, daher befürworten wir eine Erhöhung der Mietzuschüsse für Asylwerber in Privatquartieren“, sagt Caritas-Direktorin Elisabeth Rathgeb. Das wäre auch für eine gute Integration besser.

Derzeit gibt es 165 Euro Mietzuschuss für Einzelpersonen oder 330 Euro für eine Familie. Mit dem Verpflegungsgeld von monatlich 260 € für Erwachsene bzw. 145 € für Minderjährige sind alle restlichen Lebenshaltungskosten zu begleichen. Pro Monat gibt es 12,50 € Bekleidungsgeld dazu (die Regelung gilt übrigens für alle Asylwerber): „Mit dem Mietzuschuss kann man in Tirol nicht einmal ein Zimmer bezahlen“, so Rathgeb. Dass die aktuelle Teuerung die Hilfsbereitschaft einschränke, erlebt man nicht: „Aber natürlich haben wir Sorge dass das kommen kann“, sagt Rathgeb. In Tirol seien gute Netzwerke in vielen Dörfern auf Eigeninitiative entstanden, sagt Tatjana Pospisil, Freiwilligenkoordinatorin beim TSD. Natürlich gebe es nach sechs Monaten „aber eine gewisse Ernüchterung und Frustration“, weil es viele offene Fragen gibt und sich der Krieg in die Länge zieht.

Die Grundsicherung ist knapp bemessen. Man kann damit nur in organisierten Quartieren der TSD auskommen.
Elisabeth Rathgeb (Caritas Tirol)

Wie wichtig die Unterstützung hier ist, weiß Aleksandra Vecheruk. Die Zahnärztin lebte bereits vor dem Krieg hier und gehört zum Verein „Ukrainische Gemeinde in Tirol“. Die Lage sei extrem schwierig. Viele der Geflüchteten würden in einer Zwischenwelt leben. Nicht daheim, in der Fremde nicht angekommen: „Ich würde sagen, 95 % hoffen, dass sie bald nach Hause können“, sagt sie. Menschen aus der Zentral- oder Westukraine kehren oft jetzt schon zurück.

Dass die Stimmung nach sechs Monaten auch hier eine andere ist, würde man spüren. Mit der Teuerung steigen Diskussionen bezüglich der EU-Sanktionen gegen Russland: „Wir hoffen, dass die Menschen verstehen, dass es auch für Europa wichtig ist, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Putin gibt sein imperialistisches Denken nicht einfach so auf.“ Im Herbst will man wieder regelmäßig Veranstaltungen in der Innsbrucker Innenstadt abhalten, um daran zu erinnern: Es ist Krieg. Mitten in Europa.

Iryna Botnar mit der Ärztin Nastya, ihrem Sohn Igor, der Lehrerin Tetiana und Großmutter Anna.
© TT/Böhm

Die Bürokratie in einem gastfreundlichen Land

Während viele Flüchtlinge in den vergangenen Monaten in Tirol Fuß gefasst haben, kehrten andere zurück, darunter die junge Journalistin Iryna Botnar.

Von Michaela S. Paulmichl

Ötztal-Bahnhof – Noch im Juni hat Iryna Botnar aus der Hafenstadt Yuzhny nahe Odessa gemeinsam mit anderen Ukrainern an einer Kundgebung in Innsbruck teilgenommen. Vor dem Landesmuseum hielt sie mit der Lehrerin Tetiana, der Medizinerin Nastya, ihrem Sohn Igor und Großmutter Anna eine Ukraine-Fahne in die Höhe. Die Gruppe war im Frühjahr wie viele Tausende andere auch nach Tirol gekommen und hat im Haus einer Verwandten, die mit einem Österreicher verheiratet ist, in Ötztal-Bahnhof Aufnahme gefunden.

Während die Lehrerin ihre in der Ukraine gebliebenen Schulkinder im Herbst weiterhin über einen Laptop unterrichten wird, lernen besonders Nastya und Igor jeden Tag unermüdlich Deutsch – der Achtjährige, um an seiner Volksschule in Ötztal-Bahnhof höher eingestuft zu werden, und seine Mutter, um die Voraussetzungen für ihr Studium zu erfüllen, das sie bald in Innsbruck beginnen will. Nastya ist zwar bereits ausgebildete Ärztin, kann aber wegen der gesetzlichen Bestimmungen ihren Beruf hier nicht ausüben. Auch ihre Versuche, als Pflegerin in einem Krankenhaus oder Seniorenheim zu arbeiten und selbst Geld zu verdienen, schlugen fehl. Ihr abgeschlossenes Medizinstudium und ihre Tätigkeit als praktizierende Hausärztin werden nicht einmal dafür als Voraussetzung anerkannt. Eine Nostrifizierung, also eine Anerkennung, ist in Österreich ungleich schwerer als etwa in Deutschland.

Während sich die kleine Gruppe in Tirol integriert hat und weiter Fuß fasst, ist Iryna Botnar in die Ukraine zurückgekehrt und dort wieder für ihren Sender „tvMIG Yuzhny“ im Einsatz. „Schade, dass ich dieses gastfreundliche Land mit den liebenswerten Menschen und der schönen Natur nur wegen diesem Drama in meinem Land kennen lerne“, hatte sie noch im Frühjahr in der von ihr niedergeschriebenen Geschichte über die Flucht der kleinen Gruppe nach Tirol gemeint, die TT berichtete. Die Zeit in Österreich nutzte sie, um in den sozialen Medien weiterhin zu informieren.

Sie könne sich nicht daran gewöhnen, in Sicherheit zu sein, getrennt von ihren Landsleuten, Familie und Freunden, während diese unter Beschuss um ihr Land und ihre Freiheit kämpfen. „Ich möchte nur noch nach Hause, um dabei zu sein und, wo immer es möglich ist, helfen zu könne­n.“