Als Antwort auf Russland: Scholz will Europa fundamental reformieren
Nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine schlägt der deutsche Kanzler Olaf Scholz eine grundsätzliche Reform der EU vor. Diese soll auf bis zu 30 bis 36 Mitgliedsstaaten wachsen. Um funktionsfähig zu bleiben, solle zum Mehrheitsprinzip gegriffen werden.
Prag – Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz fordert eine radikale Reform der Europäischen Union, um das Bündnis um bis zu acht Staaten erweitern zu können. In einer europapolitischen Grundsatzrede in Prag schlug Scholz am Montag dabei Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Steuerpolitik, eine Neuordnung im Europäischen Parlament, ein gemeinsames Luftverteidigungssystem in Nordeuropa und eine Reform der europäischen Schuldenregeln vor.
Die Abkehr vom Prinzip der Einstimmigkeit sei wichtig: "Die Bürgerinnen und Bürger erwarten eine EU, die liefert", sagte er mit Blick auf die langwierigen Abstimmungsprozesse in der Staatengemeinschaft. Scholz sprach sich für eine deutliche Erweiterung des Bundes von 28 Staaten aus und sprach von 30 oder 36 Mitgliedern. Die Westbalkan-Staaten, die Ukraine, die Republik Moldau und "perspektivisch" Georgien gehörten in die EU. Diese Erweiterung sei im Interesse der Europäer.
"In diesen Tagen stellt sich erneut die Frage, wo künftig die Trennlinie verläuft zwischen diesem freien Europa und einer neo-imperialen Autokratie", fügte Scholz mit Hinweis auf den russischen Angriff auf die Ukraine hinzu. Genau für diese Aufnahme müsse die EU aber interne Reformen angehen. Der deutsche Kanzler mahnte Geschlossenheit der Europäer an, weil sie nur so bestehen könnten. Zusammen habe man beste Chancen, das 21. Jahrhundert im europäischen Sinne mit zu prägen, sagte Scholz in Anspielung auf die Konkurrenz mit China.
Gremium auch für Nicht-EU-Mitglieder
Zudem schloss er sich den Vorschlägen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an, über die EU hinaus ein Gremium zu schaffen, in dem man sich mit Nicht-EU-Mitgliedern wie Großbritannien abstimmen kann. Scholz schlug Treffen auf Regierungschefebene ein- oder zweimal im Jahr vor. Dies dürfe aber kein Ersatz für den Beitritt weiterer Staaten sein. Macron sagte in Paris, es werde in den nächsten Wochen ein erstes Treffen in Prag geben, um seinen Vorschlag einer neuen europäischen politischen Gemeinschaft zu diskutieren.
Die Vorschläge dürften vor allem bei kleineren EU-Staaten auf Widerstand stoßen. Zwar sollten sie nach Scholz' Vorstellungen wie bisher einen EU-Kommissar oder eine EU-Kommissarin bestimmen können, aber etwa im europäischen Parlament deutlich an Gewicht verlieren. Denn Scholz schlug vor, dass das Europäische Parlament "unter Beachtung auch des demokratischen Prinzips, wonach jede Wählerstimme in etwa das gleiche Gewicht haben sollte" reformiert werden sollte. Davon dürfte ein großes Land wie Deutschland gegenüber kleineren Ländern wie etwa Luxemburg profitieren. Die bisherige Obergrenze von 751 Parlamentarierinnen und Parlamentariern dürfe auch bei der Erweiterung auf 36 Staaten nicht überschritten werden. Scholz betonte, dass er eine Debatte anstoßen wolle und es keine fertigen "deutschen Lösungen" gebe. Es gebe in der EU keine Über- und Unterordnung.
Mehrheitsentscheidungen in Außen- und Steuerpolitik sinnvoll
Auch das Pochen auf Mehrheitsentscheidungen ist strittig. Scholz mahnte aber, dass es keinen weiteren Wildwuchs von Staatengruppen geben dürfe, die bei bestimmten Themenfeldern vorangehen. In der Außen- und Steuerpolitik seien Mehrheitsentscheidungen sinnvoll - auch wenn dies Deutschland betreffe. Er sprach von der Möglichkeit einer "konstruktiven Enthaltung" statt dem Pochen auf ein Vetorecht.
Strittig dürfte gerade auch in Polen und Ungarn die Forderung des Kanzlers nach einer Koppelung der EU-Zahlungen an die Einhaltung der Werte der Staatengemeinschaft sein. "Sinnvoll scheint mir auch, Zahlungen konsequent an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards zu knüpfen", sagte Scholz. "Denn die Rechtsstaatlichkeit ist ein Grundwert, der unsere Union einen sollte", mahnte er. Diese dürfe man gerade in einer Zeit nicht aufgeben, wenn Autokratie die EU-Demokratien herausforderten.
Verteidigung soll eng zusammenrücken
Zugleich plädierte der SPD-Politiker für eine sehr viel stärkere Verteidigungszusammenarbeit, forderte ein voll funktionsfähiges EU-Hauptquartier und bot eine zentrale deutsche Rolle bei der Organisation der Luftverteidigung in Nord- und Osteuropa an. Die geplante schnelle EU-Eingreiftruppe müsse 2025 voll einsatzfähig sein. Scholz stellte sich zudem hinter den französischen Vorschlag, eine "Koalition der Willigen" für Auslandseinsätze zusammenzustellen.
Zugleich mahnte der Kanzler an, dass die europäischen Rüstungsindustrien enger zusammenarbeiten und die Zahl der Waffensysteme in den 27 EU-Mitgliedsstaaten reduziert werden müssten. Allerdings hat sich Polen gerade für den Kauf amerikanischer und südkoreanischer Panzer entschieden. In Anspielung auf die deutsche Debatte über Rüstungsexporte betonte Scholz, dass die nationalen Regelungen für Waffenexporte gerade bei Gemeinschaftsprojekten angepasst werden müssen. Die strikten deutschen Regeln gelten als ein Grund dafür, warum sich Länder wie Polen für Waffen aus anderen Staaten entscheiden.
Scholz will auch einen neuen Anlauf für eine gemeinsame EU-Migrations- und Asylpolitik starten. Es brauche sichere EU-Außengrenzen, ein gemeinsames Asylrecht, aber eben auch einen Verteilmechanismus für Flüchtlinge sowie verbindliche Abkommen mit den Herkunfts- und Transitländern von Migranten. "Kroatien, Rumänien und Bulgarien erfüllen alle technischen Anforderungen für die Vollmitgliedschaft. Ich werde mich dafür einsetzen, dass sie Vollmitglieder werden", sagte er zudem mit Blick auf den Schengenraum. (APA, dpa)