Gorbatschow: Im Ausland ein Held, im Inland der Totengräber russischer Größe
Der letzte Präsident der Sowjetunion wurde 91 Jahre alt. Im Westen als großer Staatsmann und Wegbereiter der deutschen Einheit verehrt, lasteten ihm viele Russen den Zusammenbruch der Sowjetunion und das Chaos nach dem Ende des Kommunismus an.
Berlin – Sein Name steht wie kein anderer für den Fall des Eisernen Vorhangs und für die Annäherung zwischen Ost und West: Am Dienstagabend ist Michail Gorbatschow in Moskau nach langer, schwerer Krankheit in einem Krankenhaus gestorben. Der letzte Präsident der Sowjetunion wurde 91 Jahre alt. Im Westen als großer Staatsmann und Wegbereiter der deutschen Einheit verehrt, lasteten ihm viele Russen den Zusammenbruch der Sowjetunion und das Chaos nach dem Ende des Kommunismus an.
Dass ausgerechnet Gorbatschows Reformgedanken Weltgeschichte schreiben würden, schien lange kaum absehbar. Am 2. März 1931 in einer bäuerlichen Familie im südrussischen Stawropol geboren, beginnt Gorbatschow seine politische Karriere als kommunistischer Apparatschik. Während seines Jus-Studiums in Moskau lernt er seine spätere Frau Raissa (geb. Titarenko) kennen; 1953 heiratet das Paar, die einzige Tochter Irina wird 1957 geboren.
Auf eine Laufbahn als Parteifunktionär in seiner Heimatregion folgt Gorbatschows Sprung nach Moskau. In den 1970er-Jahren wird er Mitglied im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. Er gilt als Schützling von KGB-Chef Juri Andropow, der 1982 dem langjährigen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew an der Spitze der Sowjetunion nachfolgt, jedoch bereits 1984 stirbt. Nach dem bereits nach einem Jahr erfolgten Tod von Andropows Nachfolger Konstantin Tschernenko wird 1985 der erst 54-jährige Gorbatschow zur neuen Nummer eins in der Sowjetunion.
📽️ Video | Paul Krisai (ORF) zum Tod von Gorbatschow
Im Vergleich zu den Hardlinern im Politbüro gilt Gorbatschow schnell als Reformer. Auch im Ausland sehen viele in dem neuen Mann an der Spitze der UdSSR einen erfrischenden Gesprächspartner. „Er ist von seiner Art relativ offen und intelligent. Er ist umgänglich und hat einigen Charme und Humor", schreibt die konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher vier Monate vor Gorbatschows Ernennung zum Generalsekretär des Politbüros an den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan.
Für Eindruck bei Gorbatschows Reisen in den Westen sorgt auch die Eleganz seiner Frau Raissa. Als die einstige First Lady der Sowjetunion im Jahr 1999 erst 67-jährig an Leukämie stirbt, trauert Russland mit seinem umstrittenen Nationalhelden.
Reformkurs: Glasnost und Perestroika
Anders als im Westen stehen bei der politischen Bewertung Gorbatschows in Russland nicht dessen Abrüstungspolitik und ehrgeizige Reformansätze im Vordergrund – sondern deren Scheitern. Zunächst lässt die Politik von Glasnost und Perestroika – Offenheit und Umgestaltung – Millionen Menschen in der Sowjetunion in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre auf ein besseres Leben hoffen.
Doch bei vielen Russen herrscht heute die Erinnerung an den ungezügelten Kapitalismus und die zahlreichen Privatisierungen vor, die nach dem Ende des Kommunismus über das Land hereinbrachen und von denen vor allem einige Oligarchen profitierten.
Auch Gorbatschow selbst machte aus seinen Versäumnissen keinen Hehl. „Natürlich bedauere ich manches. Es wurden Fehler gemacht, und wir haben es nicht geschafft, die Perestroika erfolgreich zu beenden", sagte er rückblickend über sein Kernprojekt.
Überschattet wird Gorbatschows Regierungszeit auch von anderen Entscheidungen. Zwar verzichtet er beim Zerfall des Warschauer Paktes wie auch bei den Ereignissen rund um den Berliner Mauerfall auf den Einsatz von Gewalt – die Teilung Deutschlands beschreibt er später als „Zeitbombe".
Vertuschung der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
In der damaligen Sowjetunion ordnet Gorbatschow aber durchaus Militäreinsätze an und schickt sowjetische Panzer in die sich abspaltenden Republiken Litauen, Aserbaidschan und Georgien. Auch die tagelange Vertuschung der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986, die zur Verseuchung Hunderttausender mit radioaktiver Strahlung führte, fällt unter Gorbatschows Verantwortung.
Außenpolitisch wird Gorbatschow derweil zum Helden. Am 2. Dezember 1989 verkündet er gemeinsam mit dem damaligen US-Präsidenten George Bush bei einem Gipfeltreffen vor der Küste Maltas das Ende des Kalten Krieges. Das Ende der Sowjetunion besiegelt der inzwischen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Gorbatschow am 25. Dezember 1991 mit seinem Rücktritt und der Übergabe des Atomkoffers an den neuen russischen Präsidenten Boris Jelzin.
Den Untergang der Sowjetunion wird Gorbatschow später in seiner Autobiografie bedauern – ebenso wie den gescheiterten Umbau der Kommunistischen Partei zu einer demokratischen. „Ich bedauere noch immer, dass es mir nicht gelungen ist, das Boot, an dessen Steuer ich stand, in einen guten Hafen zu fahren." (APA/AFP)
1931 - 2022
Früherer sowjetischer Präsident Michail Gorbatschow gestorben
1931–2022